Corpus der Segen und Beschwörungsformeln
- Zugang zum Digitalisat des Corpus der Segen und Beschwörungsformeln (Sachsen.digital): https://sachsen.digital/alle-sammlungen/nachlass-adolf-spamer-des-instituts-fuer-saechsische-geschichte-und-volkskunde/listenansicht/
- Schlagwortkataloge zum Corpus der Segen- und Beschwörungsformeln: noch nicht online
Das Corpus der Segen und Beschwörungsformeln (CSB) ist eine Sammlung von etwa 23.000 Texten, denen als kleinster gemeinsamer Nenner populäre religiöse, laienmedizinische und alternative Denkkonzepte und Praktiken zugrunde liegen. In Form eines Zettelkastens enthält es Abschriften von Segen, Beschwörungen, Zauberformeln, Amuletten, Himmels- und Schutzbriefen, die aus dem Mittelalter bis in die 1960er Jahre stammen. Die Texte repräsentieren die Vorstellung, durch Besprechen Krankheiten heilen, Feinde bekämpfen, den Teufel oder Hexen beschwören oder Schätze finden zu können. Am stärksten vertreten sind Formeln des deutschen Sprachgebiets, darüber hinaus finden sich lateinisch-, französisch-, englisch- oder polnischsprachige.
Das CSB ist Teil des umfangreichen Nachlasses des Volkskundlers Adolf Spamer (1883–1953), der das Material in rund fünfzigjähriger Arbeit kollaborativ zusammengetragen hat. Von 1954 bis Mitte der 1970er Jahre war es als Projekt an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (AdW), ab 1972 Akademie der Wissenschaften der DDR, angesiedelt, und stellt ein für die Wissenschaftsgeschichte der DDR wohl einzigartiges Unternehmen dar. Denn alternative Wissenskonzepte, die den im CSB versammelten Texten zur Heilung oder Schadensabwehr zugrunde liegen, wurden staatlicherseits abgelehnt und bekämpft. Das Wissenschafts- und Weltbild der DDR war szientistisch und materialistisch geprägt. Die Welt galt als nur objektiv und materiell beschreibbar, was zu einer Ablehnung religiöser oder metaphysischer Erscheinungen und Themen führte.
Dennoch zählte das CSB an der AdW zu den ‚Traditionsunternehmen‘. Damit waren zumeist langfristig angelegte Projekte wie Wörterbücher oder Bibliografien bezeichnet, die nach deren Gründung 1946 aus Vorgängerinstitutionen und anderen Einrichtungen übernommen worden waren. Der Ursprung des CSB liegt im Jahr 1907, als der Verband deutscher Vereine für Volkskunde beschloss, mit einer Sammlung „nachweisbarer magischer Formeln“ des deutschen Sprachgebiets zu beginnen und dafür eine Kommission ins Leben rief. Die zentrale Sammelstelle wurde bei dem Volkskundler und Bibliothekar Hugo Hepding (1878–1959) an der Universitätsbibliothek Gießen eingerichtet, der zudem die Kommission leitete. Weitere Mitglieder waren Eugen Fehrle (1880–1957), Karl Helm (1871–1960), Franz Jostes (1858–1925), Adolf Spamer und Richard Wünsch (1869–1915). Unterstützt werden sollte die Sammlung durch die dem Verband angeschlossenen Volkskundevereine und deren Mitglieder.
Das Vorhaben geriet bereits mit dem Ersten Weltkrieg ins Stocken. Das endgültige Aus kam Anfang der 1930er Jahre, weil andere Großprojekte wie das „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ und der „Atlas der deutschen Volkskunde“ Geld und Personal banden. Spätestens mit diesem Wegfall institutioneller Unterstützung wurde die Sammlung von Hepding und Spamer aber auf halbprivater Ebene weitergeführt. Anders als die Sammelstelle in Gießen vermuten lässt, gab es aber nie ein zentrales, institutionaliertes Corpus als Ergebnis der Sammelaktion. Das Corpus in seiner heutigen Form und auch in der, die es in der Zeit seiner Verwahrung durch die AdW hatte, geht fast ausschließlich auf die persönlichen Aktivitäten Adolf Spamers zurück.
Johanna Nickel (1916–1984), eine Schülerin Spamers, wurde 1954 an der AdW angestellt, um das Material weiter zu bearbeiten. Auf sie geht das CSB in seiner heutigen Form zurück. Sie übertrug zunächst die von Adolf Spamer angefertigten und im Nachlass vorhandenen Abschriften mit Schreibmaschine auf Blätter im A5-Format und diesen Texten auch weitere hinzu. Die fertigen Abschriften stellte sie als Kartei auf. Daneben entwickelte sie weitere Instrumente, um den Zugriff auf das Corpus effizient zu gestalten: Ein Schlagwortkatalog verzeichnet sogenannte Zauberformeln wie ‚Abrakadabra‘, der andere fasst Motive und Handlungen wie ‚Kochen kranker Kinder‘, ‚Blei‘ oder ‚Binden‘ zusammen. Unter dem jeweiligen Schlagwort notierte Nickel die ‚Adressen‘ der Fundstellen, die aus der Ordnungskategorie und der laufenden Nummer des Textes bestehen.
Im Zuge des vom Sächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst geförderten Projekts „Erschließung und Digitalisierung des Nachlasses von Adolf Spamer“ (2017–2019) konnte das komplette Corpus der Segen und Beschwörungsformeln mit Mitteln des Landesdigitalisierungsprogramms des Freistaats Sachsen digitalisiert werden. Durch seine Online-Präsentation bei der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek (SLUB) steht es nun weltweit für die Nutzung zur Verfügung.
Zudem wurden die beiden Schlagwortkataloge transkribiert und werden demnächst hier ebenfalls verfügbar sein.
Material und Nutzung
Johanna Nickel verwendete für das Corpus unter anderem die Rückseiten von halbierten Briefbögen der AdW aus den 1950er Jahren. Zudem ordnete sie die Texte in 409 vermutlich von ihr selbst erstellte Kategorien ein, die Krankheiten, Feinde oder alltägliche Probleme beschreiben und alphabetisch geordnet sind: von „Abnehmen“, „Adel“, „Afel“ bis „Zauberpferd“, „zaus und zesem“ und „Zittermal“. 141 dieser Kategorien enthalten sogenannte Verweisblätter, die auf einen anderen Begriff verweisen. Die übrigen Kategorien enthalten neben dem Deckblatt jeweils eine unterschiedliche Anzahl von Texten – von einem bis mehr als tausend. Die Texte jeder Kategorie sind aufsteigend nummeriert, so dass sich eine eindeutige Signatur ergibt, die aus dem Kategorienamen und der laufenden Nummer besteht, z.B. „Augensegen 1“. Für die Digitalisierung des Materials wurden jeweils 50 Nummern zu einem Konvolut zusammengefasst, z.B. „Augensegen 1-50“, „Augensegen 51-100“ etc. Einzelne Texte lassen sich so zwar nicht direkt ansteuern, aber innerhalb der Konvolute schnell finden.
Der Aufstellung des Corpus als Kartei gemäß sind die Rückseiten der Blätter üblicherweise nicht beschrieben, weil beim Blättern jeweils nur die Vorderseiten sichtbar sind. Dieser Eindruck wurde beim Digitalisat beibehalten, indem fast ausschließlich die Vorderseiten (und wenige beschriebene Rückseiten) gescannt wurden.