Jena 1989 revisited – die Entstehung eines Projekts

Für die Erarbeitung der verschiedenen Themenbereiche und der Website wendeten wir unterschiedliche Methoden an. Nach einer ausführlichen Literaturrecherche besuchten wir das Stadtarchiv Jena sowie das „Thüringer Archiv für Zeitgeschichte Matthias Domaschk“. Darüber hinaus führten wir Interviews mit Zeitzeug*innen und Expert*innen. Das qualitative Interview ist eine wichtige Methode in volkskundlich-ethnografischen Forschungskontexten. Dadurch erhielten wir Einblicke in Erfahrungen und Erlebnisse und somit subjektive Eindrücke zu den Transformationsprozessen um 1989 und konnten Jena zwischen damals und heute „revisiten“.

Interviewführung: Das qualitative Interview

Es gibt etliche Varianten der qualitativen Interviewführung. Entscheidend ist der „Grad der Strukturiertheit“ (Schmidt-Lauber 2007, S. 175) und das Maß an Einsatz von Leitfäden während der Gesprächssituation. Dabei soll keine starre Frage-Antwort-Situation erzeugt werden, sondern es geht darum, Äußerungen von subjektiven Erfahrungen und Vorstellungen zum jeweiligen Thema zu evozieren.

Für unsere Website haben wir teilstrukturierte Interviews durchgeführt. Dafür wurde im Vorfeld ein Leitfaden mit themeneingrenzenden Fragen formuliert, die auch biografische Bezüge hatten. Des Weiteren wurden für das Themenfeld „Plattenbausiedlung Lobeda und Kunst im öffentlichen Raum “ bewegte Interviews im Feld geführt. Die Zitate sind der besseren Lesbarkeit wegen leicht überarbeitet; anonymisierte Namen (Pseudonyme) sind mit * gekennzeichnet.

Interviewführung: Bewegte Interviews im Feld

Zwischen dem Menschen und seiner räumlichen Umgebung bestehen Wechselbeziehungen. Einerseits greift der Mensch gestaltend in die Umwelt ein und verändert sie. Auf der anderen Seite hat auch die räumliche Umgebung einen Einfluss auf das menschliche Verhalten.

Bei dem Thema „Plattenbausiedlung Lobeda und Kunst im öffentlichen Raum“ bot es sich an, ein Interview im Stadtraum zu führen. Auch beim bewegten Interview kann im Vorfeld ein Leitfaden ausgearbeitet werden. Die Fragen sind auf das Erleben und die Beziehung zwischen Mensch und Raum ausgerichtet. Die Bewegung im jeweiligen Raum kann zudem Erzählimpulse hervorrufen. Ergänzend zum bewegten Interview kann eine teilnehmende Beobachtung durchgeführt werden. So kann beispielsweise beobachtet werden, welche Reaktionen die Umgebung bei der interviewten Person erzeugt und welche Eigenschaften dem jeweiligen Raum zugeschrieben werden.

Dérive / Spaziergänge

Eine Erläuterung dieser Methode ergibt sich durch den Bezug zum bewegten Interview im Feld in Lobeda. Denn es kann bei einer Stadtethnografie sehr erhellend sein, sich durch verschiedene Stadtteile zunächst einmal treiben zu lassen. Das Wort „dérive“ bedeutet so viel wie „driften“ oder „umherschweifen“. Bei dieser Methode soll der Stadtraum durch ungeplantes Durchstreifen, ohne jegliches Ziel, erfahren werden. Dabei lässt sich die spazierende Person sozusagen von der Stadt selbst leiten. Die Architektur von Gebäuden, die Anordnung von Häusern und der Verlauf von Straßen haben Einfluss auf das Verhalten. Es soll darauf geachtet werden, welche Qualitäten ein Ort aufweist, ob ein Ort anziehend oder abstoßend ist, welche Gerüche und Geräusche vorhanden sind, was der Ort „erzählt“.

Auswertung der Interviews

Für die Auswertung der Interviews fertigten wir Gedächtnis- und Gesprächsprotokolle sowie Transkripte an. Die Auswertung orientierte sich zudem an der Methode der qualitativen Inhaltsanalyse, um die Aussagen in den Interviews für das jeweilige Thema zu kontextualisieren. Die Aufzeichnungen der Interviews erfolgten zwischen Oktober 2019 und März 2020.

Archive und Quellen

Als archivalisches Material dienten Zeitungsartikel sowie Fotografien und Stadtpläne, aber auch Interviewbestände. Besonders für die Themen „Eichplatz, Jentower und Innenstadt“ und den „Saalbahnhof“ war die Sichtung der zeitgenössischen Presseberichterstattung einschließlich der Leserbriefe im Stadtarchiv Jena zentral. Die (historischen) Stadtpläne machen deutlich, welche Veränderungen sich im Stadtbild vollzogen hatten. Dabei sind insbesondere ‚fehlende‘, also abgerissene, Gebäude und Umbenennungen von Straßen oder Plätzen zu erkennen. Fotografien wiederum stellen ein visuelles Zeugnis der Veränderungen dar. Die Zeitungsartikel schließlich dienen zum einen dazu, verschiedene Geschehnisse (chronologisch) nachzuvollziehen. Zum anderen liefern Leserbriefe als Stimmen aus der Bevölkerung eine persönlichere, subjektivere Wahrnehmung der Veränderungen in Jenas Innenstadt. Für die Bearbeitung der Punk-Thematik kamen selbstverfasste Songtexte, Merchandise-Artikel der jeweiligen Bands oder auch Fotografien zum Einsatz.

Literatur

  • Debord, Guy: Theory of the Dérive. In: Les Lèvres Nues #9 (1956), URL: https://www.cddc.vt.edu/sionline/si/theory.html.
  • Keding, Melanie/Weith, Carmen: Bewegte Interviews im Feld. In: Bischoff, Christine/Oehme-Jüngling, Karoline/Leimgruber, Walter (Hg.): Methoden der Kulturanthropologie. Bern 2014, S. 131 – 142.
  • Mey, Günter/Mruck, Katja: Qualitative Interviews. In: Naderer, Gabriele/Balzer, Eva (Hg.): Qualitative Marktforschung in Theorie und Praxis. Grundlagen, Methoden und Anwendungen. Wiesbaden 2007, S. 249-278.
  • Schmidt-Lauber, Brigitta: Das qualitative Interview oder die Kunst des Reden-Lassens. In: Göttsch, Silke/Lehmann, Albrecht (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie. Berlin 2007, S. 169-188.