Die Plattenbausiedlung Neulobeda – eine sozialistische Mustersiedlung?

Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war die Wohnungsnot in den Städten groß. Bombenangriffe hatten unzählige Wohngebäude komplett zerstört oder zumindest unbewohnbar gemacht. Evakuierte, Kriegsheimkehrer, vor allem jedoch die große Anzahl der Flüchtlinge und Vertriebenen aus den ehemals deutschen oder deutsch besiedelten Gebieten östlich von Oder und Neiße – mehr als vier Millionen waren es allein auf dem Gebiet der späteren DDR – suchten ein neues Zuhause. Um all diesen Menschen möglichst schnell und effektiv helfen zu können, entstanden ab den 1950er Jahren Großwohnsiedlungen. Insbesondere die Plattenbauweise eignete sich für die schnelle Schaffung von Wohnraum: Riesige Betonfertigteile werden zusammengefügt. Mit der Plattenbauweise eröffnete sich für die Staatsführung der DDR eine Möglichkeit, dem Mangel an bezahlbarem Wohnraum entgegenzuwirken. Durch die Verwendung einheitlicher Materialien und der immer gleichen Bauweise entstanden innerhalb kürzester Zeit Großwohnsiedlungen, die das Ideal der kollektiven Gesellschaft verkörperten.

P2 – M10 – WSB70: Plattenbauten

In Neulobeda entstand zwischen 1966 und 1986 eine solche Siedlung. Beim Plattenbau wird nach sogenannten Typen unterschieden. Zu Beginn der 1960er Jahre wurde der Typ „P2“ entwickelt, der auch in Lobeda Verwendung fand. Tragende Zwischenwände waren bei diesem Bau nicht mehr nötig; der offene Grundriss veränderte auch die Wohnformen und Funktionen, da Küche, Ess- und Wohnzimmer ineinander übergingen. 1967 wurden dann über 200 Wohnungen des Typs „M10“ (mit Loggia) fertig gestellt. Das „M“ steht für Magdeburg, wo der Bautyp am häufigsten verwendet wurde, die „10“ für die Anzahl der Stockwerke. Ab den 1970er Jahren schließlich dominierte der neu entwickelten Bautyp „WBS70“ in Lobeda, die „Wohnbauserie 70“ war in der gesamten DDR am weitesten verbreitet. Dieser Typ – mit einem einheitlichen Plattenraster von 1,20 Meter x 1,20 Meter – sollte die Baukosten durch möglichst rationelle Herstellungsbedingungen reduzieren.

Neulobeda: Wohnraum für „Zeissianer“

Der Volkseigenen Betrieb (VEB) „Carl Zeiss“ in Jena wurde 1948 verstaatlicht und in den 1960er Jahren dann zum führenden Kombinat im Bereich Optik in der DDR ausgebaut. Neben Mikroskopen und Teleskopen entwickelte Zeiss auch Technik für die Raumfahrt. An Bord des sowjetischen Raumschiffs „Sojus 22“, das 1976 in den Weltraum startete, befand sich beispielsweise die in Jena entwickelte Multispektralkamera MKF 6, mit der die Erdoberfläche vom Weltraum aus erforscht werden konnte. Aufgrund der großen wirtschaftlichen Bedeutung des Betriebes wurden in der gesamten DDR Arbeiter*innen, Wissenschaftler*innen und Ingenieur*innen angeworben. Bis zum Jahr 1989 arbeiteten mehr als 70.000 Menschen im VEB „Carl Zeiss“. Die vielen Beschäftigten benötigten selbstverständlich auch Unterkünfte. Um Werkswohnungen für die „Zeissianer“ zu schaffen begann daher zu Beginn der 1960er Jahre die Planung der Großwohnsiedlung Neulobeda. [BilderG7P_985und A8P_2963]Dass eine solche Siedlung das Stadtbild prägen würde, war den Zeitgenossen durchaus bewusst:

„Die Perspektivplanung nach dem VII. Parteitag der SED stellt dem VEB Carl Zeiss als Zentrum des wissenschaftlichen Gerätebaues große Aufgaben, die über die DDR hinaus für alle sozialistischen Länder integrierende Bedeutung haben. […] Zur Realisierung dieser Aufgaben [wissenschaftliche Grundlagenforschung und die Ausbildung von Nachwuchskadern] und zur Weiterentwicklung des VEB Schott u. Gen. und des VEB Jenapharm muß für Tausende Werktätige zusätzlicher Wohnraum geschaffen werden. Der entstehende Stadtteil Jena-Lobeda wird ungefähr soviel Einwohner wie die Stadt Pößneck aufnehmen und das Gesicht der Stadt Jena weiter verändern.“ (Görner/Fröhlich 1968, S. 9)

Die Aussicht auf eine solche moderne Wohnung stellte einen wesentlichen Anreiz dafür dar, eine Stelle in Jena anzutreten. Wohnungen in Neubausiedlungen waren begehrt, denn sie boten Zentralheizungen statt der üblichen Öfen, moderne Küchen sowie Badezimmer mit Warmwasseranschluss. Nun befand sich auch die Toilette innerhalb der Wohnung statt auf halber Treppe gelegen (und für die Gemeinschaftsnutzung konzipiert), wie es oftmals noch üblich war. Zudem entstanden in den Plattenbaugebieten nach und nach wichtige Einrichtungen wie Kindertagesstätten, Schulen und Einkaufsmöglichkeiten direkt vor Ort.

Die erste Kaufhalle in Lobeda-West, Aufnahme von Kurt Maier Juni 1969 (Fotosammlung Stadtmuseum)

Um die optische Gleichförmigkeit der Neubaugebiete zu mindern, wurden beispielsweise Fassaden gestaltet und Skulpturen oder Brunnen an verschiedenen Plätzen aufgestellt. Der Eintönigkeit sollte aber nicht nur mit Kunst am Bau und Kunst im öffentlichen Raum entgegengewirkt werden. Als Walter Ulbricht 1968 die entstehende Großwohnsiedlung Neulobeda besuchte, kritisierte er die „stupide Bauweise“ der in Zeilen angeordneten Blöcke. In der Folge entstanden neue Formen: Die Wohnblöcke wurden nun so angeordnet, dass Innenhöfe und abgetrennte Bereiche entstanden; zur Auflockerung des Stadtbildes wurden auch L- und U-förmige Wohnhäuser gebaut. Von den Hauptstraßen aus, die durch Lobeda führen, und auch von der Autobahn, die direkt am Wohngebiet entlang verläuft, lassen sich diese Bereiche nicht erahnen. Um den Stadtteil wirklich erleben und erfassen zu können, lohnt sich daher ein Spaziergang außerhalb der Hauptachsen mit einem Blick hinter die Kulissen.

Leerstand statt Nachfrage: Neulobeda nach 1989

Die tiefgreifenden politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Folgen der Friedlichen Revolution 1989 und der deutschen Wiedervereinigung 1990 hielten natürlich auch in der Stadt Jena und ihren Stadtteilen Einzug. In Ostdeutschland mussten viele Betriebe schließen oder einer Vielzahl von Mitarbeiter*innen kündigen. Auch der VEB „Carl Zeiss“ blieb davon nicht ausgenommen. Anfang der 1990er Jahre wurden an einem Tag etwa 17.000 Angestellte entlassen, die Belegschaft wurde damit auf einen Schlag um mehr als die Hälfte reduziert. Viele ehemalige „Zeissianer“ zogen nun aus Lobeda weg; sie verließen die Stadt wegen einer neuen Arbeitsstelle oder aber sie erwarben ein Eigenheim. Zurück blieben vor allem ältere Menschen. Der Leerstand entwickelte sich zu einem großen Problem: Ende der 1990er Jahre fielen schließlich über tausend Wohnungen der Abrissbirne zum Opfer.

Rückbau der Neubauten in Lobeda-Ost, Aufnahme von Kurt Maier 16.11.2004 (Fotosammlung Stadtmuseum)
Rückbau der Neubauten in Lobeda-Ost, Aufnahme von Kurt Maier 16.11.2004 (Fotosammlung Stadtmuseum)

Die verbliebenen Plattenbauten wurden nach und nach saniert und modernisiert. Die Fassaden sind dadurch bunter und einladender geworden. Die letzten unsanierten Plattenbauten in Lobeda lassen erahnen, wie Neulobeda vor den Sanierungsarbeiten von außen gewirkt haben muss.

Neben anderen baulichen Veränderungen, wie beispielsweise der Umgestaltung des Marktplatzes, wurde in den 1990er Jahren das Straßenbahnnetz zwischen Neulobeda und dem Stadtzentrum ausgebaut. Zu DDR-Zeiten wurde die bestehende Straßenbahnstrecke nach Altlobeda eingestellt und stattdessen Buslinien eingerichtet. Die Kapazität der Busse reichte jedoch kaum aus.

Die Berichterstattung in der regionalen Presse der 1990er Jahre spiegelt eine ambivalente Haltung gegenüber dem Stadtteil. Auf der einen Seite wurden auf Vorteile wie kurze Wege, das Angebot von Kindertagesstätten, Schulen und Spielplätzen sowie günstige Mieten verwiesen. Viele Artikel berichteten, dass sich die Anwohner*innen in ihrem Stadtteil wohlfühlten und auch dortbleiben wollten. Als besonders positiv wurde die Aussicht von den Balkonen der bis zu elfgeschossigen Wohnhäuser auf das grüne Umland Lobedas hervorgehoben. Auf der anderen Seite meldeten sich Anwohner*innen zu Wort, die nach der Wende einen drastischen Verlust an Wohnqualität wahrgenommen hatten. Beklagt wurde insbesondere eine Verschlechterung der nachbarschaftlichen Beziehungen. Diese Wahrnehmung lässt sich zum Teil dadurch erklären, dass das Zusammenleben nun nicht länger durch die gemeinsame Arbeit bei Zeiss geprägt wurde und die persönlichen Beziehungen untereinander entsprechend weniger eng verknüpft waren.

Wie in vielen großen Städten wurde auch in Lobeda durch die Zunahme des Individualverkehrs der Mangel an Parkplätzen zum Problem. Denn der Stadtteil war zu einer Zeit entstanden, in der es lange Wartezeiten für Trabant und Wartburg gab, der Autobesitz sowie der Bedarf an Parkplätzen entsprechend niedriger waren. Auch Prozesse wie die Reprivatisierung sind in Lobeda erkennbar. Dies zeigen unter anderem Zeitungsartikel, die über umzäunte Bereiche und Spielplätze in den Innenhöfen berichteten – diese Flächen waren nun nicht mehr für alle nutzbar. Eigentum wurde abgegrenzt.

Umzäuntes Gelände in Lobeda-Ost

Lobeda bleibt beliebt

Seit 2005 geht der Leerstand zurück, und auch die soziale Durchmischung ist wieder angestiegen. In Neulobeda leben noch immer ehemalige Zeissianer, aber auch viele Studierende, Geflüchtete und junge Familien haben in Lobeda ein Zuhause gefunden. Der Stadtteil punktet nach wie vor mit bezahlbaren Mieten, kurzen Wegen und viel Grün.

Im Rahmen des Förderprogramms „Soziale Stadt“, das 1999 ins Leben gerufen wurde, konnten einige Investitionen im Stadtteil getätigt werden. Gefördert wurden dabei bauliche Maßnahmen, die zur Verbesserung der Wohnqualität beitragen und dadurch auch den sozialen Aspekt des gemeinsamen Wohnens stärken sollen.

Laura Rommel

Quellen und Literatur

  • Bewegtes Interview in Lobeda-West mit Doris Weilandt, geführt von Laura Rommel am 04. November 2019.
  • Eine Stadt wächst aus der Scholle. Zur Entstehung von Neulobeda, in: Stadtteilzeitung Lobeda Nr. 90, 8. Jahrgang, August 2005.
  • Stadtarchiv Jena. Zeitungsarchiv:
    • Die meisten wollen Lobedaer bleiben, in: Ostthüringer Zeitung (OTZ) vom 20. Mai 1998.
    • Wir Leben in Lobeda, in: Sonntags-Anzeiger Jena vom 31. Mai 1998.
    • Rücksichtslosigkeit wird nicht Einhalt geboten. Wohnqualität in Plattenbauten schwindet durch Zuzügler, in: Thüringer Landeszeitung (TLZ) 16. Januar 1999.
    • Groß, Michael: SWVG will Entschärfung von Konflikten zwischen Mietern, in: OTZ vom 26. Februar 1999.
    • Bernst, Thomas: Fremde Kinder draußen bleiben, in: TLZ vom 23. April 2004.
    • Voigt, Christian: Die Jenaer „Platte“ erlebt ihren zweiten Frühling, in: TLZ vom 18. Juli 2013.
  • Debord, Guy: Theory of the Dérive. In: Les Lèvres Nues 9 (November 1956) – reprinted in: Internationale Situationniste 2 (December 1958), URL: https://www.cddc.vt.edu/sionline/si/theory.html.
  • Görner, Martin/Fröhlich, Georg: Jena und sein Saaletal. Ein Buch für alle, die ihre Heimatnatur lieben, pflegen und schützen, Jena 1968.
  • Hannemann, Christine: Die Platte. Industrialisierter Wohnungsbau in der DDR. 3. Aufl. Berlin 2005.
  • Jeder M² Du. Das Plattenportal, URL: https://www.jeder-qm-du.de/.
  • JenaWohnen (Hg.): Im großen Maßstab. 50 Jahre Neulobeda, Jena 2018.
  • KOMME e.V./Stadtteilbüro Lobeda (Hg.): Neulobeda. Stadtteil-Chronik 1966–2017. 3. erw. Aufl. Jena 2017.
  • Rietdorf, Werner (Hg.): Weiter wohnen in der Platte. Probleme der Weiterentwicklung großer Neubauwohngebiete in den neuen Bundesländern. Berlin 1997.
  • Stutz, Rüdiger/Mieth, Matias (Hg.): Jena: Lexikon zur Stadtgeschichte. Berching 2018.