1989 revisited. Stadtethnografische Annäherungen an Jena
30 Jahre sind mittlerweile seit dem Mauerfall und der (Wieder-)Vereinigung der beiden deutschen Staaten vergangen. Die Transformation des „Ostens“ – von einem rigide geführten sozialistischen Regime mit zentral gesteuerter Planwirtschaft zu einem demokratischen Staat mit freier („sozialer“) Marktwirtschaft – brachte die persönliche Freiheit für alle Bürger*innen, aber auch vielfältige Probleme mit sich. Denn neben den systemischen Veränderungen in Politik, Wirtschaft, Recht und Gesellschaft stellten die Auflösung und das Ende der DDR eine einschneidende biografische Erfahrung dar. Mit dem Verlust der Alltagswelt ging die Umstellung auf neue gesellschaftliche Anforderungen einher, die in ganz unterschiedlicher Weise – als Chance, als Niederlage oder als Notwendigkeit – bewältigt wurde. So manche Konsum- und Reisewünsche wurden nun erfüllt, ganze Lebensentwürfe dagegen in Frage gestellt. Zu den schwerwiegendsten Konsequenzen des Transformationsprozesses zählt der Zusammenbruch der ostdeutschen Industrie: Fast vier Millionen Menschen verloren ihre Arbeit. Mangelnde Konkurrenzfähigkeit auf der einen, Misswirtschaft und Profitdenken auf der anderen Seite führten zur Abwicklung einer Vielzahl von Betrieben. Erwerbslosigkeit und erhöhte (Arbeits-)Mobilität waren die Folge, aber auch freiwillige Wohnortwahl infolge erweiterter Möglichkeiten. Infrastrukturelle Maßnahmen und die Sanierung ganzer Stadtteile veränderten Stadt- und Landschaftsbilder ebenso wie die zunehmende Motorisierung. Die Ereignisse wirken bis heute nach und sind nicht nur den Biografien eingeschrieben.
Auch die Städte – als soziale, politische und wirtschaftliche Gebilde – spiegeln die Transformationsprozesse wider. Die Untersuchung dieser Prozesse interessiert sich für die lokalen Besonderheiten und die spezifische Gestalt und ihre Veränderungen. Denn das Bild einer Stadt ist geprägt von ihrer Geschichte und ihrer Verfasstheit – und natürlich von ihren Bewohner*innen. Stadt ist gelebter kultureller und sozialer Zusammenhang. Ihre Geschichte lässt sich an Straßenzügen und Bauwerken ablesen, an der Atmosphäre und manchmal sogar am Geruch. Es macht einen Unterschied, ob es sich um eine (ehemalige) Industriestadt, eine Residenzstadt oder eine Messestadt handelt.
Um die Stimmungen und Eigenarten einer Stadt einzufangen, sollte sich der Blick aber nicht vom Offensichtlichen leiten lassen. Im Gegenteil: Unsere Disziplin Volkskunde / Kulturanthropologie möchte Blicke auch hinter die Kulissen werfen und Altbekanntes neu denken. Das deutet der Begriff „revisited“ an: Wir wollen überdenken, neu denken, Perspektiven wechseln.
Das Projektseminar „1989 revisited. Stadtethnografische Annäherung an Jena“ (am Seminar für Volkskunde / Kulturgeschichte der Friedrich-Schiller-Universität Jena) thematisiert den Wandel, der sich beispielsweise in baulichen Veränderungen im Stadtbild oder im Funktionswandel von Plätzen und Gebäuden zeigt. Außerdem sollen Phänomene in den Blick genommen werden, die bislang unterbelichtet geblieben sind.
Forschungslehrprojekte bieten die Möglichkeit, sich über einen längeren Zeitraum intensiver mit einem Thema zu beschäftigen. Am Ende soll ein konkretes Resultat stehen. Wir entschieden uns für eine Website, um möglichst viele Menschen anzusprechen und unsere Ergebnisse öffentlich zugänglich zu machen. Zwei Semester lang hat sich die Gruppe intensiv mit selbst gewählten Themen auseinandergesetzt und eigene Forschungsarbeiten durchgeführt. Dabei kamen Interviews, Archivrecherchen, Bild- und Medienanalysen zum Einsatz.
Eva Dieckmann arbeitet zur Punkszene in Jena und der Offenen Arbeit der Evangelischen Kirche, in der alternative Jugendkulturen in der DDR einen gewissen Freiraum fanden.
Anna Rausch beschäftigt sich mit dem Wandel des Stadtbildes in der Innenstadt von Jena. Dabei nimmt sie speziell den Eichplatz und JenTower mit ihrem jeweiligen Funktions- und Bedeutungswandel in den Blick. Von Maxi Fücker wird der Saalbahnhof im Norden der Stadt erforscht. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein Verkehrsknotenpunkt, verlor er durch die Eröffnung des Paradiesbahnhofs an infrastruktureller Bedeutung. Heute ist der Saalbahnhof ein wichtiger kultureller Treffpunkt. Laura Rommel beschäftigt sich mit dem Plattenbau und der Errichtung des Stadtteils Neulobeda. Als Wohnort für die „Zeissianer“ gedacht, leben heute auch viele Studierende in der „Platte“. In Neulobeda gibt es den höchsten Anteil an Kunst im öffentlichen Raum der Stadt Jena, die größtenteils aus DDR-Zeiten stammt. Die Saale, eine wichtige Lebensader der Stadt, wird von Ira Spieker in den Blick genommen. Bei der Beschäftigung mit dem Fluss, seiner Nutzung und Funktion rückt auch das Problem Umweltverschmutzung in den Blick. Gerade in Jena haben sich zahlreiche aktive Menschen in dieser Beziehung engagiert.
Dankeschön!
Für die vielfältige Unterstützung und Zusammenarbeit an diesem Projekt danken wir herzlich allen Interviewpartner*innen, dem Stadthistoriker Rüdiger Stutz, dem Thüringer Archiv für Zeitgeschichte „Matthias Domaschk“ (Katharina Kempken, Maria Riedel), dem Stadtarchiv Jena (Constanze Mann), der „Gerbergasse 18“ – Geschichtswerkstatt Jena e. V. (Daniel Börner), dem Stadtmuseum Jena (Birgitt Hellmann, Teresa Thieme), für die grafische Gestaltung Katja Töpfer und die technische Umsetzung Nadine Kulbe und Michael Schmidt (ISGV) sowie der Initiative „Kleine Fächer-Wochen in der Philosophischen Fakultät“.
Literatur
- Friedrichs, Jürgen/Häußermann, Hartmut: Die Entwicklung der Städte in den neuen Bundesländern. In: Bertram, Hans/Kollmorgen, Raj (Hg.): Die Transformation Ostdeutschlands. Berichte zum sozialen und politischen Wandel in den neuen Bundesländern. Opladen 2001, S. 315-339.
- Kollmorgen, Raj/Merkel, Wolfgang/Wagener, Hans-Jürgen (Hg.): Handbuch für Transformationsforschung. Wiesbaden 2015.
- Wietschorke, Jens: Anthropologie der Stadt: Konzepte und Perspektiven. In: Mieg, Harald A./Heyl, Christoph (Hg.): Stadt. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart/Weimar 2013, S. 202-221.