Edition und Kommentar. Aufbau und Vermittlung von kontextualisierenden Inhalten

Sektion III - Kommentierte Urkundeneditionen – Nur etwas für »Urkundionen«?

24. Juni 2022 - 11.45 Uhr

Dorothee Rippmann Tauber ‧ Itingen

Forschungsschwerpunkte

  • Sozial- und Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters
  • Historische Frauenforschung und Geschlechtergeschichte
  • Geschichte der ländlichen Gesellschaft und der Stadt-Land-Beziehungen
  • Alltagsgeschichte und Kulturgeschichte der Ernährung im Mittelalter
  • Archäologie des Mittelalters
Portraitfoto von Dorothee Rippmann

Vita (Auszug)

  • 1988 Promotion an der Universität Basel, als Doktorandin und Assistentin von Prof. František Graus
  • 1999–2000 Nachdiplomstudium der Museologie an der Universität Basel
  • 2003 Habilitation an der Universität Zürich; seit 2011 Titularprofessorin an der UZH
  • lehrte Geschichte des Mittelalters unter besonderer Berücksichtigung der Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der UZH von 2004 bis zum Altersrücktritt 2016
  • lehrte Geschichte des Mittelalters an der Pädagogischen Hochschule des Kantons Zürich
  • 2009–10 Gastprofessorin am Historischen Institut der Universität Wien

Publikationen (Auswahl)

  • [aktuelle Neuerscheinung:] Frömmigkeit in der Kleinstadt. Jenseitsfürsorge, Kirche und städtische Gesellschaft in der Diözese Konstanz 1400–1530, Zürich 2022. Link mit Weiterleitung zur zugehörigen Online-Edition
  • Basel Barfüsserkirche. Grabungen 1975–1977. Ein Beitrag zur Archäologie und Geschichte der mittelalterlichen Stadt (Schweizer Beiträge zur Kulturgeschichte und Archäologie des Mittelalters 13), Olten/Freiburg i.Br. 1987.
  • Bauern und Städter. Stadt-Land-Beziehungen im 15. Jahrhundert. Das Beispiel Basel, unter besonderer Berücksichtigung der Nahmarktbeziehungen und der sozialen Verhältnisse im Umland (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft 159), Basel/Frankfurt a. M. 1990 [Diss., Basel 1987].
  • zusammen mit Katharina Simon-Muscheid und Christian Simon, Arbeit – Liebe – Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags, 15. bis 18. Jahrhundert (Quellen und Forschungen zur Geschichte und Landeskunde des Kantons Basel-Landschaft 55), Liestal 1996.
  • Bestattungen und Kirchhöfe auf dem Areal der einstigen Barfüsserkirchen zu Basel: Die Epitaphien, in: Basler Zeitschrift für Geschichte und Altertumskunde 120 (2020), S. 211-239.
  • Aneignung von „Wildem“ und Neuem durch Sprache – im Lichte von Agrarschriften und Kräuterbüchern, in: Simona Boscani Leoni/Martin Stuber (Hg.), Wer das Gras wachsen hört. Wissensgeschichte(n) der pflanzlichen Ressourcen vom Mittelalter bis in 20. Jahrhundert (Jahrbuch für die Geschichte des Ländlichen Raumes [JGLR]), Studien Verlag 2017, S. 14-36.
  • Geschlechterverhältnisse in der ländlichen Gesellschaft, in: Rolf Kießling/Frank Konersmann/Werner Troßbach, Grundzüge der Agrargeschichte, Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zum Dreißigjährigen Krieg (1350–1650), Böhlau Verlag, Köln u.a. 2016, S. 242-258.
  • Leben, Arbeit und materielle Kultur im Lichte pragmatischer Schriftlichkeit in der Schweiz, in: Gudrun Gleba/Niels Petersen (Hg.), Wirtschafts- und Rechnungsbücher des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Formen und Methoden der Rechnungslegung: Städte, Klöster und Kaufleute, Göttingen 2015, S. 209-253. Link
  • Sehen, Riechen, Tasten, Schmecken. Eine Archäologie des Geschmacks im Mittelalter, in: Mit allen Sinnen. Traverse. Zeitschrift für Geschichte – Revue d'Histoire 2015/2, S. 57-75.

Frömmigkeit in der Kleinstadt: Jenseitsfürsorge, Kirche und städtische Gesellschaft in der Schweiz (1400–1530). Quellen und Materialien zur Region Bischofszell

Längst vor der Pandemie, als der Zugang zu Archiven und Bibliotheken die Arbeit mit den Dokumenten vor Ort noch möglich machte, habe ich eine Forschung zur spätmittelalterlichen Kirche in der Ostschweiz (Diözese Konstanz) abgeschlossen (Frömmigkeit in der Kleinstadt: Jenseitsfürsorge, Kirche und städtische Gesellschaft in der Diözese Konstanz, 1400–1530. Quellen und Materialien zur Region Bischofszell). 2015 und 2017-19 entstand zu diesem Projekt eine „Edition mit Kommentar“. Sie ist so umfangreich, dass sie aus mehreren Gründen (wie den altbekannten Kostengründen) nicht in den „Thurgauer Beiträgen zur Geschichte“ gedruckt werden wird, vielmehr haben wir uns für eine Online-Edition entschieden. Dazu sind unter dem oben angegebenen Titel im März 2022 beim Verlag Chronos (Zürich) die Publikation und die kostenfrei zugängliche Online Edition (Quellenauswahl und Kommentare) erschienen.

Am Beispiel der Heilsökonomie (Seelenheilstiftungen) untersuche ich die Gesellschaft von Bischofszell und die Stadt-Land-Beziehungen in den 130 Jahren bis zur Reformation. Eine Quellensammlung und Kommentare zu den hier erstmals edierten Quellen sollen exemplarisch in das Thema einführen und ein Bild individueller und kollektiver Frömmigkeit zeichnen. Das Augenmerk liegt auf den Stiftern/Stifterinnen und ihrer Vergabungspraxis. Das universale Phänomen der Stiftungen (vgl. dazu die Enzyklopädie des Stiftungswesens, hg. von M. Borgolte, Berlin 2014, 2016, 2017) wird am regionalen Beispiel historisch erforscht, als mikrohistorische Studie. Leitende Fragestellungen meiner Monografie orientieren sich an der Stiftskirchenforschung (vgl. Peter Moraw; Guy P. Marchal; Andreas Meyer; Beatrice Wiggenhauser). Die Stiftungen hatten einen Doppelcharakter: den wirtschaftlichen zur Finanzierung der kirchlichen Leistungen einerseits, den religiös-liturgischen des Fürbittegebets für die Seelen der Verstorbenen andererseits. Hinzu kommen die „frommen Werke“, sei es die Unterstützung städtischer Spitäler beziehungsweise Siechenhäuser, sei es die Fürsorge für Hausarme und mobile Arme, was den Öffentlichkeitscharakter privater Donationen unterstreicht.

Im Buch zeige ich auf, wie der soziale Zusammenhalt unterschiedlicher Akteure und Interessengruppen in der Kleinstadt und auf dem Land funktionierte. Denn im Sinne des Stadtfriedens und des „gemeinen Nutzens“ waren das liturgische Totengedenken, die korrekte Verwaltung der Stiftungskapitalien und der guten Werke besonders auch für die sozial Schwachen wichtig. Zweitens kann eine im Vergleich mit anderen Regionen beziehungsweise Archiven in der Schweiz außerordentlich günstige und reichhaltige Quellenlage exemplarisch genutzt werden, um die aktuelle Forschung zum Thema Schriftlichkeit, Schriftgebrauch und Überlieferung anzugehen – immer im Rahmen der Stiftskirchenforschung (Dorothee Rippmann, „Über die Gräber gehen und Gott für die selben Seelen bitten“. Stiftungen zum Totengedenken in der Kleinregion Bischofszell, in: Hannes Steiner (Hg.), „Wer sanct Pelayen zue gehört...“ Beiträge zur Geschichte von Stift und Stadt Bischofszell und Umgebung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Frauenfeld 2016, S. 149-176).

Das Quellencorpus zusammenzustellen setzte eine vorgängige Auswertung und die Formulierung präziser historischer Fragestellungen voraus; damit legte ich den Pfad der Quellensuche. Der zeitliche Beginn der Sammlung wurde absichtlich bei 1400 angesetzt, sodass die Arbeit zeitlich an die gedruckten Quelleneditionen (Thurgauer Urkundenbuch; Chartularium Sangallense, bis 1411) anschließt und diese fortführt beziehungsweise im Falle der Anniversarbücher den Stadt-Landvergleich ermöglicht. Denn sie sind mit den von Uwe Braumann herausgegebenen Jahrzeitbüchern des Konstanzer Domstifts zu vergleichen (MGH, Libri memoriales et Necrologia, NS VII, 2009). Die Stücke stammen aus Staatsarchiven, aus zwei Bürgerarchiven, aus drei Archiven von katholischen beziehungsweise evangelischen Pfarrgemeinden und aus der Württembergischen Landesbibliothek Stuttgart. Das Vorhaben bietet dem eiligen Nutzer/der Nutzerin erstmals eine genauere Einsicht in schwer zugängliche Bestände kleinerer Archive (gewisse Archive sind bis heute nur ungenügend erschlossen, so jenes der Evangelischen Kirchgemeinde Bischofszell) – damit wird sichtbar, wie viel Forschungs- und Editionsarbeit zum Spätmittelalter und zur Frühen Neuzeit von Historikerinnen und Historikern in Zukunft noch zu leisten wäre! Zu diskutierende Aspekte sind:

      • Zielpublikum sind historische Fachleute, ebenso auch historische Laien und Studierende, denen die Kulturgeschichte und die Wirtschafts- und Sozialgeschichte des Spätmittelalters nähergebracht wird. Wie die Kombination von Buch und kommentiertem Online-Quellencorpus von Laien und Fachleuten angenommen und beurteilt werden wird, kann noch nicht abgeschätzt werden. Ich visiere auch das Publikum der Archivare und kirchlichen Archivbetreuerinnen an. Diesbezüglich habe ich von ersten positiven Reaktionen (Pfarrherrn, Lokalarchivare) zu berichten.
      • Die Online-Publikation umfasst circa 300 Typoskript-Seiten, das Quellencorpus ist indes als offene Quellensammlung zu verstehen. Sie enthält neben wenigen normativen Texten aus Konstanz (Synodalstatuten, kirchliche Handbücher) 65 Urkunden, andererseits zwei dörfliche Anniversarverzeichnisse, die vollumfänglich ediert werden, sowie ein drittes aus dem Kontext eines bedeutenden Niederadelsgeschlechts, das auszugsweise ediert wird.
      • Die Edition beschränkt sich nicht auf ein Kurzregest und die üblichen historisch-kritischen Angaben zur Überlieferung und Materialität (Angabe von Archiv, Signatur, Original, Beschreibstoff, allfälligen Kopien, Beglaubigungsmittel etc.). Sie enthält gegenüber den Urkundenbüchern zwei Zusatzangebote:
        • Das (Sprach-)Didaktische Angebot: In den laufenden Urkundentext werden Worterklärungen (Glossar) und teilweise auch Erklärungen und Stellenerläuterungen eingebaut (in den Fußnoten) – dies als Verständnishilfen für Leserinnen und Leser, die mit der Urkundensprache nicht vertraut sind. Im universitären Unterricht (aller Stufen) können entsprechende Erklärungen und Apparate der Vermittlung hilfswissenschaftlicher, editorischer und historischer Grundlagen dienen. Einige lateinische Texte werden von mir übersetzt.
        • Der historische Kontext: Jedem Einzelstück in der Onlineedition ist ein (zum Teil kurzer) Kommentar vorangestellt: Mit prosopografischen Angaben über das handelnde Personal, die betreffenden Orte und Zinsgüter, über weitere Dokumente zum gleichen Rechtsgeschäft oder über die Verwendung gängiger Zitate aus der Bibel und aus weiteren Quellen. Diese ausführlich belegten Angaben dienen der Entlastung des Belegapparats im gedruckten Buch mit der auswertenden Studie. Das ist der von mir angestrebte Mehrwert gegenüber „traditionellen“ Urkundenbüchern.

Beispiel zum Vortrag

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