Wie die Deutschen nach Sachsen kamen – Einwanderung im Zuge der hochmittelalterlichen Ostsiedlung
von Enno Bünz
„Alter Hass in neuen Kleidern“, unter dieser dramatischen Überschrift berichtete die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 28. März 2015 über das Problem, dass Sorben in der Oberlausitz immer wieder angegriffen werden. Zwar sind die rechtsradikalen Täter aus Sachsen, die hinter diesen verbalen und tätlichen Angriffen standen, mittlerweile gefasst, aber es bleibt ein bedrückender Befund, dass sich Fremdenfeindlichkeit nicht nur gegen Migranten richtet, die in jüngster Zeit nach Sachsen gekommen sind, um hier ein Bleiberecht zu erhalten, sondern auch gegen Menschen, die sich von der Mehrheit der Bürger des Freistaates Sachsen nur dadurch unterscheiden, dass sie sich zur sorbischen Minderheit bekennen und deshalb ihre eigene Sprache und Kultur pflegen. Heute sind die wenigen Zehntausend Sorben eine Minderheit, deren Lebensform von der sächsischen Verfassung garantiert wird. Vor tausend Jahren hingegen bildeten sie im Gebiet des heutigen Freistaates das eigentliche „Staatsvolk“. Die Sorben waren hier, bevor die Deutschen kamen. Wer damals das Gebiet der heutigen sogenannten Neuen Bundesländer von Mecklenburg über Brandenburg bis nach Sachsen bereiste, konnte feststellen, dass allenthalben Volksgruppen lebten, die – wie die Sorben – slawisch sprachen. Nach der sogenannten Völkerwanderungszeit des 4. bis 6. Jahrhunderts waren aus den Landschaften zwischen Elbe, Saale und Oder die zahlreichen germanischen Stämme weitgehend verschwunden. In die nun größtenteils siedlungsleeren Gebiete rückten im Laufe des 7. und 8. Jahrhunderts aus Osteuropa slawische Stämme nach, darunter die Sorben. Tausende von Ortsnamen, die wie Miltitz auf –itz oder wie Torgau –ow/au enden, zeigen von ihrer Präsenz in diesem Land bis heute.
Mit dem Reich der Ottonen entstand in Mitteleuropa im Laufe des 10. Jahrhunderts ein Herrschaftsgebilde, das in alle Himmelsrichtungen expandierte. Von Deutschen oder Deutschland kann in dieser Zeit noch nicht die Rede sein. König Otto der Große (936-973), der 968 Bischofssitze in Magdeburg, Merseburg, Zeitz und Meißen gründete, gehörte einer Dynastie an, die aus dem heutigen Niedersachsen stammte. Er wird sich als Sachse verstanden haben, allerdings im Sinne von Altsachsen, das große Teile des heutigen Norddeutschland umfasste. Dass der Name dann auf die Mark Meißen im heutigen Freistaat Sachsen überging, ist ein Vorgang des 15. und 16. Jahrhunderts. Sachsen war nicht immer Sachsen!
Seit dem 10. Jahrhundert haben die Ottonen in den Slawengebieten östlich von Elbe und Saale neue Herrschaftsstrukturen aufgebaut. Damals war nur ein kleiner Teil des heutigen Freistaates besiedelt. Wie ein schmaler Schlauch zogen sich die Wohngebiete der Slawen vom Raum Leipzig über Meißen und Dresden bis nach Bautzen. Die Ottonen unterwarfen diese Gebiete durch Kriegszüge, machten die Slawenstämme abgabenpflichtig, errichteten allenthalben zur Sicherung ihrer Herrschaft als Befestigungen sogenannte Burgwarde und begannen mit der Christianisierung der Slawen, die bis dahin ihre lokalen Götter verehrten. Dass es damals einen nationalen Gegensatz von Deutschen und Slawen gegeben hätte, ist ein Wunschbild der Forschung seit dem 19. Jahrhundert, die nicht anders als in nationalen Stereotypen und Gegensätzen denken konnte. Die Zeitgenossen nahmen einen ganz anderen Gegensatz wahr, nämlich den von Christen und Heiden, der allmählich durch die Missionierung der Sorben überwunden wurde.
Erst zu Beginn des 12. Jahrhunderts setzte der epochale Vorgang ein, der von Historikern als die deutsche Ostsiedlung bezeichnet wird. Die frühesten Nachrichten stammen aus Nordwestsachsen, wo im Gebiet um Pegau und Groitzsch an der Weißen Elster um 1100 von dem Adligen Wiprecht von Groitzsch (gest. 1124) Siedler aus Franken herbeigeholt wurden, um die Wälder zu roden und neue Dörfer anzulegen. In Bad Lausick ist dieser Vorgang mit Händen zu greifen, denn dort steht eine romanische Kirche, die dem heiligen Kilian geweiht ist. Das war der Patron des Bistums Würzburg, aus dem die Neusiedler stammten. Im Gebiet des heutigen Freistaates Sachsen gab es im 12. Jahrhundert zahlreiche Herrschaftsträger, die den Landesausbau beförderten, indem sie neue Siedler von weither herbeiholten: die Markgrafen von Meißen, also die Wettiner, die Stauferkönige, die Chemnitz, Zwickau und Altenburg gründeten, die Herren von Schönburg oder auch die Bischöfe von Meißen und viele mehr. Nur selten ist die Ansiedlung auch urkundlich dokumentiert. Ganz außergewöhnlich für Sachsen ist der Siedlungsvertrag, den Bischof Martin von Meißen 1154 mit Siedlern aus Flandern, also dem heutigen Belgien, abschloss, um das Dorf Kühren bei Wurzen zu gründen. Auch andernorts in Sachsen wurden Kolonisten aus Flandern oder aus den Niederlanden ansässig gemacht. Andere Siedler kamen aus Franken, Westfalen, dem Rheinland oder dem Moselgebiet. Z.T. wurden von den Landesherren Siedlungsunternehmer, sogenannte Lokatoren beauftragt, die Siedler von weit her anzuwerben. Die Sage vom Rattenfänger von Hameln dürfte hier ihren historischen Kern haben.
Dass dieser Vorgang möglich war, hängt mit der Bevölkerungsentwicklung in Süd- und Westdeutschland, in den Niederlanden und Belgien zusammen. Seit dem 12. Jahrhundert gab es in diesen Landschaften einen Bevölkerungsüberschuss, der zu einer starken ländlichen Siedlungsverdichtung und Gründung von Städten geführt hat. Neben den zunehmend schwierigen wirtschaftlichen Lebensbedingungen angesichts laufend steigender Bevölkerungszahlen beförderten wohl auch die mancherorts einengenden Herrschaftsverhältnisse adliger oder geistlicher Grundherren den Entschluss, abzuwandern. Für viele Menschen mochte es deshalb attraktiver erscheinen, nach Mittel- und Ostdeutschland, oder auch in die Regionen Ostmitteleuropas abzuwandern. Dort fanden sie trotz aller Härten des Kolonistenlebens gute Rahmenbedingungen wie persönliche Freiheit und eine geringe Abgabenlast. Zu Anfang des 13. Jahrhunderts erreichte die deutsche Ostsiedlung schon die Oberlausitz, und im Laufe dieses Jahrhunderts ließen sich dann deutsche (und flämische) Siedler beispielsweise auch in Schlesien, Böhmen und in Siebenbürgen nieder, also in Gebieten, die gar nicht mehr zum Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation gehörten.
In Sachsen erreichte die Ostsiedlung schon um 1200 den Höhenkamm des Erzgebirges. Die Dimensionen dieses Vorgangs sind unschwer daran ablesbar, dass in den Gebieten der Ostsiedlung fast nur deutsche Ortsnamen anzutreffen sind und die meisten der im 12. und 13. Jahrhundert angelegten Dörfer bis in 19. Jahrhundert eine ganz charakteristische Flurform aufzuweisen hatten: Da die Siedlungen als Neugründungen in einem Zug und zumeist in Waldgebieten, die erst einmal gerodet werden mussten, angelegt wurden, zeigen sie die Form der Waldhufenflur. Beiderseits einer Straße wurden die Bauerngehöfte aneinandergereiht, und hinter ihnen erstreckte sich in z.T. kilometerlangen parallelen Streifen das zu diesen Höfen gehörige Ackerland. Hunderte neuer Dörfer sind so in Sachsen im Laufe des 12. und 13. Jahrhunderts durch die Neusiedler, die aus der Ferne kamen, angelegt worden. Auch fast alle Städte Sachsens sind erst damals entstanden.
Die Einwohnerzahlen Sachsens im Mittelalter lassen sich nur grob schätzen. Vor dem Beginn der Ostsiedlung um 1100 mögen hier etwa 30.000 Menschen, überwiegend Sorben, gesiedelt haben. Um 1300, am Ende der Ostsiedlung, wird sich die Bevölkerungszahl Sachsen mindestens auf 300.000 verzehnfacht haben. Das ist eine auf den ersten Blick beeindruckende Zahl, doch muss man sich vergegenwärtigen, dass sich die Ostsiedlung über fast zwei Jahrhunderte hinzog. Für die Zeitgenossen war dieser Vorgang deshalb weit weniger spektakulär, was auch erklärt, dass fast kein hochmittelalterlicher Geschichtsschreiber von der Ostsiedlung Notiz genommen hat. Der deutsche „Drang nach Osten“ ist eine ideologische Geschichtskonstruktion der neueren Zeit. Die „Deutschen“ oder wie immer man diese Neusiedler bezeichnen mag, kamen nicht als Sendboten einer Nation, um die Sorben mit ihrer vermeintlich überlegenen westlichen Kultur zu beglücken, sondern als Zuwanderer, die bereit waren, hier im harten Tagwerk als Kolonisten ihren Lebensunterhalt zu verdienen, und sie arrangierten sich dort, wo es sich ergab, mit den Sorben, die schon längst hier waren. Wer die Geschichte von Deutschen und Slawen seit der Ostsiedlung kennt, wird verstehen, wie absurd die Frage ist, wem in Sachsen das Heimatrecht gebührt. Seit fast tausend Jahren leben Slawen und Deutsche hier zusammen. Es gibt keine Alternative zum Zusammenleben. Migration ist Geschichte, Gegenwart und Zukunft Sachsens!
Zum Weiterlesen:
BÜNZ, Enno (Hg.), Ostsiedlung und Landesausbau in Sachsen. Die Kührener Urkunde von 1154 und ihr historisches Umfeld (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 23), Leipzig 2008
HIGOUNET, Charles, Die deutsche Ostsiedlung im Mittelalter. Aus dem Französischen übersetzt von Manfred Vasold, Berlin 1986 (Taschenbuchausgabe München 1990)
Urkunden und erzählende Quellen zur deutschen Ostsiedlung im Mittelalter. Gesammelt und hrsg. von Herbert Helbig/Lorenz Weinrich, Teil 1: Mittel- und Norddeutschland, Ostseeküste (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte des Mittelalters. Freiherr vom Stein-Gedächtnisausgabe 26a), Darmstadt 1968