Normalfall Migration. Ein Blick zurück ins Sachsen des 19. Jahrhunderts
von Lutz Vogel
Da, wo viele Ausländer leben, wird sich auch der geistige Horizont der Einheimischen unwillkürlich erweitern und man wird mehr geneigt sein, auch vom Auslande zu lernen und sich bessere Arbeitsmethoden oder sonstige Vorzüge des Auslandes anzueignen. (Karl Viktor Böhmert, Direktor des königlich sächsischen Statistischen Büros, 1892)
Einwanderungen nach Sachsen waren auch im 19. Jahrhundert prägend für die Entwicklung des Landes. Kamen in den Jahrhunderten zuvor vor allem Konfessionsflüchtlinge wie z. B. die Hugenotten oder die böhmischen Exulanten ins Land, dominierten nun insbesondere Arbeitsmigranten die Zuwanderung in das damalige Königreich. Besonders spürbar wurde dies am Ende des 19. Jahrhunderts, in der Folge der „Gründerjahre“. Und es waren beträchtliche Zahlen: Gab es im Freistaat im Jahr 2012 einen Ausländeranteil von etwa zwei Prozent, machte er ein Jahrhundert zuvor, am Vorabend des Ersten Weltkrieges, knapp 15 Prozent der sächsischen Bevölkerung aus.
Wer kam in dieser Zeit nach Sachsen? Was waren die Gründe, sich hier niederzulassen? Wie wurden die Zuwanderer aufgenommen?
Dazu muss zunächst einmal betrachtet werden, wer damals überhaupt als Ausländer galt. Der 1815 nach dem Ende der Napoleonischen Kriege gegründete Deutsche Bund war ein Staatenbund, kein Bundesstaat. Das bedeutet, die Mitglieder wie etwa Sachsen, Preußen, Bayern oder Württemberg blieben weiterhin eigenständig – dies betraf sowohl die Gesetzgebung als auch die Frage, wer als Angehöriger des jeweiligen Staates zu betrachten war und wer nicht. Wie in den übrigen Ländern des Bundes wurden auch in Sachsen alle als Ausländer angesehen, die eine andere als die sächsische Staatsangehörigkeit besaßen. Dies traf bis in die 1830er-Jahre übrigens genauso auf die Menschen aus der Oberlausitz zu, die in kursächsisches Gebiet zogen – auch sie zählten zu den Ausländern. In diesem Sinne also waren Bayern, Preußen oder Franzosen gleichermaßen „Ausländer“. Erst mit der Gründung des Deutschen Reiches 1871 wurde dann zwischen „Deutschen“ (z. B. Preußen, Thüringer, Bayern) und „Ausländern“ (z. B. Franzosen, Österreicher, Russen) unterschieden.
Die Einwanderer, die im 19. Jahrhundert nach Sachsen kamen, zogen sowohl in die größeren Städte als auch auf die Dörfer, und es kamen Männer ebenso wie Frauen. Zwischen beiden Zuzugszielen muss man unterscheiden, denn dementsprechend variierte auch die Herkunft der Zuwanderer. Während ländliche Gebiete vor allem für Handwerker sowie Dienstboten und -mägde aus der näheren Umgebung attraktiv waren, kamen Zuwanderer in die Städte aus entfernteren Regionen. So zogen weithin berühmte Bildungsstätten wie die Forstakademie Tharandt oder die Bergakademie Freiberg Studenten aus ganz Europa an. Aber auch Leipzig als blühende Messe- und Handelsstadt, Dresden als Residenz- und Kulturstadt sowie Chemnitz als Industriestadt waren für Weitgereiste besonders anziehend. So lebten 1857 in Leipzig z. B. Handelsschüler und Kaufmannslehrlinge aus Bergamo, Pesth (ungar. Budapest) und Krakau (poln. Kraków); in Dresden u. a. eine Hofschauspielerin aus Prag (tschech. Praha), eine Opernsängerin aus Wien und ein Buchdrucker aus Venedig (ital. Venezia). Und nach Chemnitz kamen zu dieser Zeit u. a. ein Glasergeselle aus Bozen (ital. Bolzano) und eine Lehrerin aus Wien. Aus heutiger Sicht kurios erscheinen ein aus der Nähe von Pilsen (tschech. Plze?) stammender Händler, der sich in Neustädtel bei Schneeberg dem Verkauf von Ameiseneiern widmete, oder der in Chemnitz lebende „Elefanten-Führer“ Andreas Grubhofer aus Innsbruck. Zur selben Zeit findet man in Sachsen aber auch Techniker und Fabrikarbeiter aus England, Gouvernanten, Sprachlehrerinnen und Kammerdiener aus Frankreich oder Maurergesellen aus Dänemark.
In den sächsischen Dörfern ließen sich dagegen in erster Linie Menschen aus direkt angrenzenden Nachbargebieten wie Preußen und Böhmen nieder. In Ostsachsen dominierten die schlesische Oberlausitz und das östliche Böhmen um die Region Reichenberg als Herkunftsgebiet der Einwanderer, in Westsachsen kamen die meisten aus den thüringischen Kleinstaaten, Bayern und Westböhmen um die Region Eger. Die Forschung nennt dies kleinräumige Migration. Auf diese Weise kamen vor allem Handwerker wie z. B. Schuhmacher, Weber und Bäcker nach Sachsen, aber auch Händler. Hier sind vor allem die Wanderhändler zu nennen, die mit ihren Waren übers Land zogen und die Dorfbevölkerung mit dem versorgten, was diese sonst nicht erwerben konnte. Wichtig waren genauso Landarbeiterinnen und Landarbeiter, die über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg gefragte Arbeitskräfte waren, weil die Industrialisierung viele Menschen aus den ländlichen Regionen in die Städte zog. Als sich die Industrialisierung dann nach und nach auch in ländlichen Gebieten ausbreitete, kamen Fabrikarbeiter aus dem angrenzenden Ausland in die Dörfer.
Die Zuwanderer des 19. Jahrhunderts waren in Sachsen als Arbeitskräfte überaus willkommen, denn die Wirtschaft boomte. Überall fehlten Arbeitskräfte: in der Industrie, beim Bau der Eisenbahn und in der Landwirtschaft. Industrielle gründeten neue Fabriken nicht selten in der Nähe der böhmischen Grenze, wohl wissend, dass böhmische Arbeitskräfte nötig waren, da die sächsischen nicht ausgereicht hätten.
Und es gab Berufe, über die gesagt wurde, dass ausländische Fachkräfte schlichtweg besser seien. So hieß es z. B. im Jahr 1859 über die böhmischen Dachdecker in der Oberlausitz, sie hätten den Ruf besonderer Tüchtigkeit und Geschicklichkeit (Staatsfilialarchiv Bautzen, 50012 KD/KH Bautzen, Nr. 519, Bl. 48 f.). Auch die Glasindustrie war auf ausländische Arbeiter angewiesen. Der Inhaber der Glashütte in Scheckthal bei Bautzen in der Oberlausitz gab Ende der 1840er-Jahre an, dass es in Sachsen bislang – aller angewandter Mühe ungeachtet – nicht gelungen sei, gute und tüchtige Glasmacher aus Inländern heranzubilden (Staatsfilalarchiv Bautzen, 50012 KD/KH Bautzen, Nr. 4705, Bl. 137).
Sogar Fabrikanten aus anderen Gebieten Deutschlands und Europas, vor allem aus England, haben sich in Sachsen niedergelassen und wussten die gut ausgebildeten Fachkräfte für die Entwicklung ihrer Industriebetriebe zu nutzen. So kam – weit vor dem Einsetzen der Industrialisierung – im Jahr 1802 der aus Wales stammende Spinnmeister und Maschinenbauer Evan Evans nach Sachsen. Er brachte neue Technologien aus seiner Heimat mit, machte sich selbstständig und gilt heute als Begründer der industriellen Baumwollspinnerei in Sachsen.
Attraktiv war das wirtschaftliche prosperierende Königreich zudem für Handwerksgesellen auf ihrer „Walz“. Dabei legten sie mitunter enorme Entfernungen zurück und wanderten teilweise durch ganz Europa, um ihre handwerklichen Kenntnisse zu erweitern und das Handwerk auch in anderen Ländern bzw. Regionen kennenzulernen. Welche Dimensionen das annehmen konnte, zeigt sich etwa daran, dass sich in Zittau im Jahr 1855 – zu einer Zeit, da die Stadt rund 11.000 Einwohner zählte – etwa 1.000 wandernde Handwerksgesellen aus ganz Europa aufhielten.
Und wie wurden sie aufgenommen, die „Fremden“ in Sachsen?
Ob Zuwanderer willkommen geheißen oder eher abgelehnt wurden, hing in erster Linie von wirtschaftlichen Aspekten ab. Dies mutet bemerkenswert aktuell an, gerade wenn man auf die Debatten des 19. Jahrhunderts blickt. Das Stigma „fremd“ spielte zu jener Zeit insbesondere dann eine Rolle, wenn vermeintliche Abstiegsängste vorhanden waren. Die Einwanderer galten zumeist als Ausländer, wenn die eingesessene Bevölkerung ihre eigenen Besitzstände bedroht sah. Schneider aus der Gemeinde Oberruppersdorf bei Herrnhut brachten dies z. B. 1831 zum Ausdruck, als sie in einem Protestschreiben gegen die Niederlassung eines Berufsgenossen bemerkten: zu einem neuen Schneider laufen alle (Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009 OA Budissin, Nr. 4036, Bl. 1). Wie in diesem Fall rief es oft Proteste hervor, wenn Ausländer einen neuen Gewerbebetrieb begründen wollten und die ortsansässigen Berufsgenossen fürchteten, Kunden an den potenziellen Konkurrenten zu verlieren. Die Ältesten der Zittauer Schneiderinnung gaben etwa im Juni 1826 zur Einwanderung von zwei Schneidern aus Böhmen und Schlesien Folgendes zu Protokoll: Zu leugnen sei jedoch nicht, daß wenn wieder zwei fremde Gesellen als Meister aufgenommen würden, bei vielen Mitgliedern der Innung – wie bei vorigen dergleichen Anlässen – Misvergnügen darüber entstehen werde (Stadtarchiv Zittau, Abteilung I, Abschnitt IX, Absatz b, Nr. Lit. S, Bd. 1, unpag.). Übernahmen Einwanderer hingegen bereits bestehende Geschäfte, gab es praktisch keine Vorbehalte, da sich die Zahl der Betriebe nicht erhöhte. So argumentierte der Weißenberger Stadtrat 1852 zur Einwanderung des aus Schlesien stammenden Nagelschmiedes Franz Stephan Joseph Bachmann: Da es sich hier nur um Uebernahme und Fortstellung eines bereits früher bestandenen […] Nagelschmiedesgeschäftes handelt, so muß der Stadtrath den nachgewiesenen Besitz einer Summe von 150 rtl. […] und nach Allem somit weder ein großes Anlage-, noch ein erhebliches Betriebscapital nöthig ist, um das Geschäft des verstorbenen Nagelschmidt Kahl übernehmen und fortführen zu können, bei Bachmannen für völlig ausreichend erachten, zumal sich gegen ihn sonst ein Einwand nicht vorbringen läßt (Staatsfilialarchiv Bautzen, 50012 KD/KH Bautzen, Nr. 6396, Bl. 126). Gab es in einem Gewerbezweig, in dem Zuwanderer tätig werden wollten, aber einen fühlbaren Mangel an Fachkräften, so wurde deren „Fremdheit“ kaum oder gar nicht thematisiert (Staatsfilialarchiv Bautzen, 50012 KD/KH Bautzen, Nr. 519, Bl. 26 f.). Und brachten Einwanderer Kenntnisse und Fähigkeiten mit, die es bis dahin in den aufnehmenden Gemeinden nicht gab, wurden sie ausschließlich positiv beurteilt. Der Gemeinderat des Oberlausitzer Dorfes Oberleutersdorf bemerkte 1822 über die Zuwanderung eines böhmischen Leinwebers, dass dieser der Gemeinde nützlich werden könne, da er […] recht hübsch schreiben und rechnen kann, welche Fähigkeit dem größten Theile hiesiger Unterthanen ganz abgeht (Staatsfilialarchiv Bautzen, 50009 OA Budissin, Nr. 4033, Bl. 155).
Gemessen an den Einwandererzahlen insgesamt waren aber Konflikte um die Ansiedlung von Ausländern in Sachsen eher selten. Die Staatsbehörden verfolgten alles in allem eine vergleichsweise liberale Aufnahmepolitik, wohl wissend, wie wichtig Ausländer für die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung des Königreiches waren.
Literatur:
ALTHAMMER, Beate, Verfassungsstaat und bürgerliches Recht: Die Stellung von Fremden im Europa des langen 19. Jahrhunderts (1789–1914), in: Altay Coşkun/Lutz Raphael (Hg.), Fremd und rechtlos? Zugehörigkeitsrechte Fremder von der Antike bis zur Gegenwart, Köln/Weimar/Wien 2014, S. 301-330.
LEHNERT, Katrin/VOGEL, Lutz (Hg.), Transregionale Perspektiven. Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19. Jahrhundert (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 20), Dresden 2011.
MURDOCK, Caitlin E., Changing Places. Society, Culture, and Territory in the Saxon-Bohemian Borderlands, 1870–1946, Ann Arbor 2010.
VOGEL, Lutz, Aufnehmen oder abweisen? Kleinräumige Migration und Einbürgerungspraxis in der sächsischen Oberlausitz 1815–1871 (Schriften zur sächsischen Geschichte und Volkskunde 47), Leipzig 2014.