Glaubensflüchtlinge in Sachsen im 17. Jahrhundert und heute
von Martin Arnold
Viele der Geflüchteten, die in den letzten Monaten und Jahren zu uns gekommen sind, stammen aus Syrien. In Deutschland suchen sie Schutz vor Krieg und Verfolgung. Entsprechend ist das Bild, das wir uns von ihrer Heimat machen, vor allem eines von religiöser Intoleranz und Unfreiheit. Tatsächlich aber war Syrien über Jahrhunderte ein Land, in dem verschiedenste religiöse und ethnische Gruppen friedlich zusammenwohnten. Konservative und liberale Sunniten, Schiiten, orthodoxe, katholische und assyrische Christen, Alawiten, Drusen, Jesiden und Juden lebten ihren Glauben. Araber, Kurden, Armenier, Turkmenen, Tscherkessen und Palästinenser waren einander gute Nachbarn. Syrien war ein faszinierender Schmelztiegel der Kulturen und Religionen. Mit dem Bürgerkrieg in Syrien bricht diese Welt nun auseinander. Vor allem die Angehörigen der Minderheiten fliehen aus dem Land. Die Folge wird voraussichtlich eine religiös-ethnische „Bereinigung“ Syriens sein.
Weit weg und im christlichen Europa unvorstellbar? So fremd diese Vorgänge heute auch erscheinen, so vertraut sind sie uns doch aus der eigenen Geschichte. Im 16. und 17. Jahrhundert erlebte Europa eine Zeit religiöser Umbrüche, die schließlich in erbarmungslosen kriegerischen Auseinandersetzungen und Vertreibungen mündeten.
Blicken wir zurück auf den Thesenanschlag Martin Luthers im Jahr 1517. Dieses Ereignis war der Ausgangspunkt der Reformation. Die Lehren des Wittenberger Theologen breiteten sich danach in Windeseile aus. Neben den Katholizismus traten nun die großen evangelischen Konfessionen (Luthertum, Calvinismus) sowie andere, kleinere Bewegungen, wie die der (Wieder-)täufer oder später (im 17. Jahrhundert) der Remonstranten und der Herrnhuter Brüdergemeine – um nur einige für den deutschen Sprachraum relevante Beispiele zu nennen. Die religiöse Landkarte wurde nun also deutlich bunter. Ganz besonders traf dies auf das Königreich Böhmen zu. Während in vielen deutschen Ländern, so auch in Sachsen, die Fürsten schon bald das Recht für sich in Anspruch nahmen, über den Glauben ihrer Untertanen zu bestimmen, war dies im Land an der Moldau anders. Da hier kein starkes Königtum seine persönlichen Vorstellungen durchsetzen konnte, herrschte praktisch Religionsfreiheit. Dies traf zumindest auf die vielen mehr oder weniger mächtigen (Land-)Adligen zu, die Ritter und Herren. Sie waren Katholiken und Lutheraner oder hingen einer der religiösen Strömungen an, die in der Nachfolge des tschechischen Reformators Jan Hus entstanden waren. Zu letzteren zählten die Kompaktaten-Utraquisten, die Reformutraquisten und die Böhmischen Brüder. Zwar waren die einfachen Bauern und Stadtbürger in ihrer Religionsausübung in der Regel wohl doch von ihrem jeweiligen adligen Gutsherrn abhängig, aber trotzdem: Über weite Teile des 16. Jahrhunderts stand Böhmen mit seiner relativen Glaubensfreiheit in Europa einzigartig da. Zieht man nun noch in Betracht, dass neben der tschechischsprachigen Mehrheit ein bedeutender deutscher Bevölkerungsanteil in diesem Land lebte, so ist es nicht ganz abwegig, die böhmischen Verhältnisse jener Zeit mit dem oben beschriebenen vielgestaltigen Syrien unserer Tage zu vergleichen.
Leider erstrecken sich die Parallelen auch bis in den Untergang beider Welten. Sind es heute in Syrien Bürgerkrieg und IS-Terror, die das multireligiöse und multiethnische Zusammenleben zerstören, so waren es vor 400 Jahren in Böhmen die Rekatholisierung des Landes und der Dreißigjährige Krieg. Nachdem die Habsburger 1526 die böhmische Königswürde errungen hatten, versuchten sie in den folgenden Jahrzehnten, ihre Machtposition Stück für Stück zu festigen. Eines der wichtigsten Ziele war dabei die Zurückdrängung aller protestantischen Konfessionen und damit die Durchsetzung des Katholizismus als einzige Glaubensrichtung im Land. Bald nach Anbruch des 17. Jahrhunderts wurde schließlich unübersehbar, dass die Habsburger ihre Macht und die Rückkehr zum alten Glauben kompromisslos durchsetzen würden. Angesichts dieser Entwicklung entschlossen sich die lutherischen und hussitischen adligen böhmischen Stände, sich gegen ihren katholischen König zu erheben. Der „Prager Fenstersturz“ vom 23. Mai 1618 stellte das Fanal zum Beginn der Rebellion dar. Gleichzeitig markiert er den Beginn des Dreißigjährigen Kriegs. Das Scheitern des Böhmischen Aufstands in der Schlacht am Weißen Berg 1620 bedeutete das Ende der religiösen Vielfalt im Land. Im Rahmen einer groß angelegten Rekatholisierungsaktion wurden nun alle evangelischen Konfessionen in Böhmen endgültig verboten. Wer sich weigerte zu konvertieren, musste entweder seinen Glauben im Geheimen ausüben (Kryptoprotestantismus) oder das Land verlassen und in eine ungewisse Zukunft in der Fremde fliehen.
Zehntausende der aus Böhmen Vertriebenen, adlige und nichtadlige, suchten Zuflucht in Sachsen. Doch bei weitem nicht jeder war willkommen. Asyl erhielten ausnahmslos Lutheraner. Wer einer anderen evangelischen Konfession angehörte, fand im glaubensstrengen Kurfürstentum keine Aufnahme. Große Furcht herrschte hier insbesondere vor den Anhängern des Calvinismus. 1601 war der sächsische Kanzler Nikolaus Krell aufgrund seiner Hinwendung zu den Lehren Johannes Calvins sogar hingerichtet worden. Religiöse Toleranz war zu jener Zeit also auch in Kursachsen ein Fremdwort. Und auch diejenigen der sogenannten böhmischen Exulanten, die schließlich die Erlaubnis erhielten, sich hier niederzulassen, führten oft ein ärmliches und entbehrungsreiches Leben. Die meisten von ihnen hatten fast all ihren Besitz in der alten Heimat zurücklassen müssen. Dies war besonders verhängnisvoll, denn während des Dreißigjährigen Kriegs und in den Jahren danach herrschte auch in Sachsen große Not. Das Land lag wirtschaftlich darnieder. Die allgemeine Knappheit beförderte die Vorurteile und die ablehnende Haltung der eingesessenen Bevölkerung. Forschungen zur Stadt Dresden zeigen z. B., dass den Exulanten vorgeworfen wurde, für hohe Lebensmittelpreise und steigende Mieten verantwortlich zu sein. Außerdem würden sie sich nicht angemessen an den öffentlichen Lasten beteiligen. Im 17. Jahrhundert war Sachsen also kein Land, in dem Geflüchtete in jedem Fall und von allen Menschen willkommen geheißen wurden. Im Laufe der Jahre und Jahrzehnte aber integrierten sich die böhmischen Exulanten trotzdem. Sie wurden selbst zu Sachsen und leisteten einen wertvollen Beitrag zum Wiederaufblühen des entvölkerten Kurfürstentums nach dem Dreißigjährigen Krieg. Viele Bürger des Freistaats können deshalb heute böhmische Exulanten zu ihren Vorfahren zählen.
Krieg und Vertreibung aus religiösen Gründen waren im Europa des 17. Jahrhunderts allgegenwärtig. Heute, 300 Jahre später, sind sie eine Realität im Nahen Osten. Die Szenarien gleichen sich. Der nie dagewesene Wohlstand, den wir heute – im Gegensatz zu unseren durch den Dreißigjährigen Krieg ausgebluteten Vorfahren – genießen können, sollte es uns dabei umso leichter machen, unser Möglichstes zu tun, den Notleidenden unserer Tage zu helfen.
Zum Weiterlesen:
METASCH, Frank, Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17.und 18. Jahrhundert, Leipzig 2011.
SCHUNKA, Alexander, Gäste, die bleiben. Zuwanderer in Kursachsen und der Oberlausitz im 17. und frühen 18. Jahrhundert, Münster u. a. 2006.
FORST, Rainer, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt/Main 22004.