Fremde Sachsen Die Mobilität der Landbevölkerung im 19. Jahrhundert
von Katrin Lehnert
Die aktuellen Debatten in Sachsen um Flüchtlinge und Ausländer zeugen mehrheitlich von Geschichtsvergessenheit: Sie blenden aus, dass viele Menschen im heutigen Sachsen in früherer Zeit selbst „Fremde“ oder „Ausländer“ waren. Beispielsweise galt noch Anfang des 19. Jahrhunderts als Ausländerin oder Ausländer, wer aus Preußen oder Bayern kam, und selbst für die aus der Oberlausitz nach Sachsen ziehenden Personen gab es noch bis in die ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts rechtliche Hindernisse.
Die weitverbreitete Annahme, Menschen seien in früheren Zeiten weniger mobil gewesen, stimmt in dieser Allgemeinheit nicht. Besonders in Bezug auf das Landleben wird häufig behauptet, es sei homogen, berechenbar und stabil gewesen. Doch das Bild des „Bauern auf der Scholle“ galt nur für wenige Menschen, wie die Geschichte Sachsens und der Oberlausitz zeigt. Auch und gerade in ländlichen Gegenden waren Menschen aus verschiedenen Gründen mobil, ob von Dorf zu Dorf oder auf dem Weg ins Ausland. Den häufigsten Grund, warum sie ihren Wohnort verließen, stellte die Armut dar: Mobilität ist seit jeher ein Weg, um in Krisenzeiten zu überleben. Beispielsweise waren Mägde und Knechte sehr viel unterwegs, wenngleich meist zu Fuß und in kleinerem räumlichen Maßstab, als es die Menschen heute durch Auto, Eisenbahn und Flugzeug sind.
Mobile Lebensläufe
Der Lebenslauf der sächsischen Magd Amalie Theresie Hosemann ist ein Beispiel dafür, dass das sogenannte Gesinde (die Angestellten in Haus und Hof) im 19. Jahrhundert sehr mobil war. Amalie wurde im Jahr 1817 im erzgebirgischen Altenberg geboren. Nach vollendeter Schulzeit blieb sie noch ein Jahr bei ihren Eltern und lebte vom Strohflechten, bevor sie im Alter von 15 Jahren auf Wanderschaft ging: In den nächsten zehn Jahren arbeitete sie als Kuhmädchen und Dienstmagd und zog in einem Umkreis von 30 Kilometern von einem Ort zum anderen. In dieser Zeit war sie bei keinem Arbeitgeber länger als ein Jahr beschäftigt. Zwischendurch kehrte sie immer wieder in ihren Heimatort zurück, etwa wenn sie verletzt, krank oder schwanger war (Hauptstaatsarchiv Dresden, 10365 Grundherrschaft Liebstadt, Nr. 2863, Bl. 12 ff.).
Eine hohe Mobilität wiesen neben dem Gesinde auch Tagelöhnerinnen und Tagelöhner aus Sachsen und Böhmen auf, die in der Landwirtschaft arbeiteten. Wenn sie nicht in der Nähe ihres Wohnortes beschäftigt waren, blieben sie oft Jahrzehnte ohne festen Wohnsitz. Die Tagelöhnerei war notwendig geworden, weil seit dem 18. Jahrhundert immer weniger Menschen ein eigenes Stück Land besaßen. Sobald die Tagelöhner sich ein kleines Häuschen oder ein Stück Boden leisten konnten, stiegen sie sozial auf und waren räumlich gebundener. Frauen hatten diese Möglichkeit jedoch selten, da es für sie schwerer war, Eigentum zu erwerben.
Arbeit im Tagelohn fand sich nicht nur in der Landwirtschaft, sondern ebenso im Bau- und Fabrikgewerbe. Ende des 19. Jahrhunderts hätte die sächsische Eisenbahn nicht gebaut werden können ohne mobile böhmische Bauarbeiterinnen und Bauarbeiter. Sie zogen häufig bereits als Kinder mit ihren Eltern von Baustelle zu Baustelle.
Wenig sesshaft waren außerdem Fabrikarbeiterinnen und -arbeiter, die nach Beendigung ihrer Schulzeit mit circa 14 Jahren bis zu ihrer Heirat häufig den Arbeitgeber wechselten, insbesondere bei der Aussicht auf höheren Lohn andernorts. Dies änderte sich nicht zwangsläufig durch die Heirat, wie der Lebenslauf des preußischen Glasmachers Johann Karl Friedrich Witte zeigt: Mitte des 19. Jahrhunderts gab dieser zu Protokoll, er wisse nicht mehr, in welchen Jahren er an welchem Ort gearbeitet habe und sei weder damals noch sonst je ansässig gewesen (Staatsfilialarchiv Bautzen, 50012 KD/KH Bautzen, Nr. 4699, unfol.). Geboren im Glasmacherdorf Annenwalde in der brandenburgischen Uckermark und verheiratet in Leippa (poln. Lipna) nahe Görlitz, arbeitete er nicht nur in der sächsischen Glashütte Scheckthal, sondern auch in verschiedenen Glasfabriken in Schlesien, Posen und Pommern, in der Niederlausitz, in Brandenburg und bei Berlin. Er war verheiratet, und seine Frau zog mit ihm.
Zahlreiche Oberlausitzer Weber, die Mitte des 19. Jahrhunderts arbeitslos waren, sahen sich ebenfalls zur Mobilität gezwungen: Von offiziellen Stellen wurde der Versuch unternommen, sie in den Weberdörfern und in entfernteren Gegenden in der Landwirtschaft zu beschäftigen. Dies hatte zur Folge, dass die Männer sich als Saisonarbeiter verdingten und im Winter zu ihren Familien zurückkehrten, wodurch sie zwei Wohnorte finanzieren mussten.
Eine andere Möglichkeit für Oberlausitzer Heimweberfamilien, ihren kärglichen Verdienst aufzubessern, bildete der Wanderhandel. Zeitweise wurde das Gewerbe der Weberinnen und Weber „Landziehen“ genannt, da sie ausgiebig Handel betrieben und dabei im Lande herumzogen. Auch Händlerinnen und Händler aus anderen Berufszweigen waren mobil und liefen teilweise regelmäßig dieselben Routen ab. Manche von ihnen führten über Jahre hinweg ein mobiles Leben, selbst wenn sie zuvor sesshaft waren oder vorhatten, sich an einem Ort niederzulassen. Auf diese Weise kam die Witwe Werner aus Hagenau im Elsass (frz. Haguenau) nach jahrelanger Wanderschaft mit vier Kindern nach Sachsen, um französische Messer zu verkaufen (StFilA Bautzen, 50095 HZA Zittau, Nr. 21a, Bl. 99 f.).
Neben diesen ökonomischen Gründen gab es vereinzelt auch religiöse Gründe für Mobilität: Einige sächsische Kinder lebten bei Freunden und Verwandten im Ausland, um dort die Schule ihrer Konfession zu besuchen. Manchmal diente die Religion lediglich als Vorwand: Eltern schickten ihre Kinder bisweilen deshalb fort, weil die Schulgebühr im Ausland niedriger und die Schulpflicht kürzer war als in Sachsen.
Mobilität war also in der Vergangenheit auch auf dem Land alltäglich, zumeist aus wirtschaftlichen Gründen. Was bedeutet das für die Wahrnehmung und Behandlung der Wandernden? In welchen Fällen wurden mobile Sachsen als „Fremde“ betrachtet?
Ursachen für Fremdheit
Viele Jahrhunderte spielte die Religions- und Konfessions- zugehörigkeit die entscheidende Rolle für das Empfinden von Fremdheit. Eine Analyse historischer Reiseliteratur zeigt, dass die Konfession im sächsisch-böhmischen Grenzraum noch im 19. Jahrhundert das wichtigste gesellschaftliche Unterscheidungsmerkmal war. Dies bedeutet: Ob eine Gegend katholisch (Böhmen) oder evangelisch (Sachsen) geprägt war, wurde sehr viel intensiver wahrgenommen als die Frage, zu welchem Land sie gehörte.
Als fremd galt auch, wer den Bewohnern und Behörden eines Ortes nicht bekannt war. Dadurch konnten bereits die im Nachbarort lebenden Menschen als „Fremde“ gelten. Sogar die Gesetze waren auf diese Definition von „Fremdheit“ ausgerichtet: Nach dem sächsischen Passregulativ aus dem Jahr 1818 mussten sich alle – und das galt ebenso für Menschen aus dem Inland – ausweisen können, und zwar an denjenigen Orten, an denen sie nicht persönlich bekannt waren. Dabei gab es keine vorgeschriebenen Inlandspässe. Die sächsische Landesregierung empfahl daher generell, sich mit Reisepässen auszustatten (Regulativ über die Verwaltung der Paßpolizei im Königreiche Sachsen vom 27. Januar 1818, Dresden 1818).
„Fremdheit“ war und ist zudem eine soziale Kategorie: Wer kein Geld oder keine Arbeit hatte und deswegen gezwungen war, anderswo Arbeit zu suchen, konnte leicht als „Bettler“ oder „Vagabundin“ gelten und mit Gefängnis oder Arbeitshaus bestraft werden. Denn Sesshaftigkeit wurde mit Arbeit, Nichtsesshaftigkeit mit Bettel und Vagabondage verknüpft. Eng damit zusammen hing die staatliche Unterscheidung in erwünschte und unerwünschte Mobilität: Zeitlich begrenzte Wanderungen, die der sächsischen Wirtschaft dienten, wurden gefördert. Dagegen stand der vergebliche Versuch, Armutswanderungen zu verhindern.
Der Grat zwischen erwünschter und unerwünschter Mobilität war in Bezug auf ländliches Dienstpersonal besonders schmal. Der Zittauer Amtshauptmann Johann von Ingenhäff versuchte im Jahr 1839, zwischen vagabondirenden Tagearbeitern und eigentliche[m] Stammgesinde zu unterscheiden (StFilA Bautzen, 50012 KD/KH Bautzen, Nr. 4556, Bl. 62-64). Er bezog sich darauf, dass die Tagelöhnerei kurze Arbeitsverträge und häufige Arbeitsplatzwechsel mit sich brachte und daher die Mobilität der Arbeitskräfte erhöhte. Demgegenüber romantisierte er das Bild der sesshaften, „einheimischen“ und in die Bauernfamilie integrierten Mägde und Knechte. Doch die „gute alte Zeit“ war vorbei und eine Unterscheidung in „sesshafte“ und „mobile“ Dienstboten in der Realität kaum haltbar: Oft handelte es sich um die gleichen Personen in einer anderen Lebensphase. Denn berufliche Unsicherheit und häufige Arbeitsplatzwechsel konnten in eine mobile Lebensweise münden, während umgekehrt beruflicher Erfolg häufig dazu führte, sich mit Haus- oder Grundbesitz ansässig zu machen. Die Kreisdirektion Dresden unterschied daher zwischen Beschäftigten im Tagelohn mit und ohne festen Wohnsitz, was der Frage gleichkam, ob eine Person Eigentum besaß oder nicht (ebd., Bl. 59 f.).
Letzten Endes ging es darum, dass im 19. Jahrhundert tief greifende gesellschaftliche Veränderungen einsetzten: Der Anbruch der Moderne mit den Agrarreformen zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte den ärmeren Schichten persönliche Freiheiten gebracht, führte aber gleichzeitig zu ihrer massenhaften Verelendung. Die Landwirte rebellierten gegen die neuen Freiheiten ihrer Bediensteten und deren Möglichkeit zum Arbeitsplatzwechsel, denn die Industrialisierung führte zu einem Exodus vom Land in die schnell wachsenden Städte. Vor diesem Hintergrund wurde räumliche Mobilität zur allumfassenden Metapher für die gesellschaftlichen Umbrüche und Probleme der Zeit. Zugleich ermöglichte sie unseren Vorfahren, auf die Suche nach einem besseren Leben zu gehen.
So verschieden die historische Situation von der heutigen sein mag, so ähnlich ist sie ihr: Viele Probleme, die eigentlich sozialer und wirtschaftlicher Natur sind, werden fälschlicherweise als kulturelle oder migrationspolitische Konflikte gedeutet. Doch „Fremdheit“ hat immer noch wenig damit zu tun, wer wie weit gewandert ist.
Zum Weiterlesen:
LEHNERT, Katrin/VOGEL, Lutz (Hg.), Transregionale Perspektiven. Kleinräumige Mobilität und Grenzwahrnehmung im 19. Jahrhundert (Bausteine aus dem Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde 20), Dresden 2011.
ROLSHOVEN, Johanna/MAIERHOFER, Maria (Hg.), Das Figurativ der Vagabondage. Kulturanalysen mobiler Lebensweisen, Bielefeld 2012.
SCHUBERT, Michael/STAAS, Christian, Wohin mit den Vagabunden? Abschieben oder dulden? Wie die deutschen Staaten des 19. Jahrhunderts mit ihren Millionen illegalen Migranten umgingen, Interview, in: DIE ZEIT Nr. 20 vom 13. Mai 2015, S. 16. Online verfügbar: http://www.zeit.de/2015/20/migration-deutschland-19-jahrhundert-michael-schubert.
WADAUER, Sigrid, Praktiken, Kategorien, Diskurse von Mobilität und Sesshaftigkeit (Österreich 1880–1938). Skizze eines Forschungsprogramms, in: Pro Civitate Austriae. Informationen zur Stadtgeschichtsschreibung in Österreich N.F. 10 (2005), S. 45-59.