Die Elbe 1815 bis 1822. Ein interkultureller Raum im Aufbruch
Andreas Martin
Anfang des 19. Jahrhunderts war Mitteleuropa von großen politischen und territorialen Umwälzungen geprägt. Die Napoleonischen Kriege, der Pariser Frieden und die Verhandlungen des Wiener Kongresses markierten die politischen Prozesse, in deren Ergebnis sich für Sachsen Wesentliches änderte: Das Königreich verlor etwa zwei Drittel seiner Fläche, damit rund ein Drittel seiner Bevölkerung und so auch einen erheblichen Teil seiner Wirtschaftskraft an Preußen. Diese Entwicklungen hatten auch auf die Nutzung der Elbe als Verkehrsweg deutlichen Einfluss, denn es wurde unter anderem der grenzüberschreitende Handel neu geregelt. Die Schlussakte des Wiener Kongresses von 1815 beschrieb den Rahmen, in dem sich die Nutzung schiffbarer Fließgewässer in einem sich langsam konstituierenden europäischen Raum entwickelte. Da war als wichtigste Festlegung die allgemeine „Freiheit der Schifffahrt“: Ein Schiffer, dem von seinem Landesherrn sein Gewerbe genehmigt worden war, durfte nun auch all jene Flussabschnitte nutzen, die unter der Hoheit anderer Regierungen standen. Alle Anrainer sollten ein einheitliches System der staatlichen Aufsicht über die Schifffahrt anwenden, insbesondere bei den Tarifen, der Anzahl der Zollstellen und der Unterhaltung des Verkehrsweges. Als Ausgangsbasis für die künftige Entwicklung gab es zwei wesentliche Festlegungen: Zum einen wurden alle überlieferten, auf den schiffbaren Abschnitt des Flusses Einfluss nehmenden, landesherrlichen Rechte abgeschafft. Und zweitens erfolgte die Festschreibung des Grundsatzes eines „gemeinschaftlichen Vorgehens“ bei der Erarbeitung und weiteren Entwicklung von Regelwerken zur Nutzung der Grenzen überschreitenden Flüsse. Die Verfügungen zur Binnenschifffahrt gelten als die liberalsten Festlegungen der Schlussakte des Wiener Kongresses.
Das Grenzregime – ein Handelshindernis
Die schwierige Situation des grenzüberschreitenden Schiffsverkehrs auf der Elbe an der böhmisch-sächsischen und an der preußisch-sächsischen Grenze führte dazu, dass die Freiheit der Flussschifffahrt ein zentrales Thema der Wiener Verhandlungen war.
Auf dem Weg flussaufwärts nach Böhmen blieb das Gewässer vor 1815 für alle Waren ab Pirna geschlossen. Das bedeutete, dass die Kähne entladen und die Waren mühselig auf dem Landweg über die Höhenzüge des Osterzgebirges transportiert werden mussten. Ausnahmen von dieser Regel bedurften der Zustimmung der Landesregierung. Flussabwärts hatten böhmische Schiffer lediglich die Erlaubnis, wenige Naturerzeugnisse, wie Holz und Früchte, nach Sachsen einzuführen. Für alle anderen Handelswaren galt das Verbot, sie per Schiff flussabwärts nach Sachsen zu bringen. Sonderregelungen waren an Privilegien gebunden, die bei der Regierung beantragt werden mussten.
Ebenso war bis 1815 der Handelsweg auf der Elbe von Preußen nach Sachsen versperrt; der sächsische Teil des Flusslaufs reichte in dieser Zeit noch bis an die anhaltische Grenze bei Apollensdorf unterhalb von Wittenberg. Hier fand ein „Prinzip der Gegenseitigkeit“ seine Anwendung, denn Magdeburg hatte im 18. Jahrhundert den mittelalterlichen Umladezwang für Elbschiffe wieder eingeführt. Sächsischen Händlern war es so unmöglich, Waren ohne besondere Erlaubnis bis nach Hamburg zu bringen.
Elbe grenzoffen
Die „Verfügungen, die Flußschifffahrt betreffend“ der Schlussakte des Wiener Kongresses führten 1815 ebenso wie die sächsischen Gebietsverluste, die auch einen großen Teil der schiffbaren Elbe betrafen, zu unklaren Situationen im Grenzregime sowohl zwischen dem Kaisertum Österreich und dem Königreich Sachsen als auch zwischen den Königreichen Preußen und Sachsen. Die Grenze im Fluss schien jahrelang geradezu aufgelöst, obwohl die alten Regelwerke noch Rechtskraft besaßen, solange die neuen Schifffahrtsgesetze weder ausgearbeitet noch verabschiedet waren. Letztendlich vergingen nahezu sieben Jahre, bis die neuen Bestimmungen 1822 in Kraft treten konnten.
Diese Situation führte dazu, dass die sächsischen Schiffer an der böhmischen Grenze nicht daran gehindert wurden, ihre Waren bis nach Aussig (tschech. Ústí nad Labem) und Leitmeritz (tschech. Litoměřice) zu transportieren und den Empfängern direkt auszuliefern. Es soll – so eine Vermutung in den Schreibstuben der sächsischen Kommerzien-Deputation – sächsischen Schiffern sogar erlaubt worden sein, über Melnik (tschech. Mělník) hinaus auf der Elbe und auf der Prager Mulde hinauf zu fahren. Die Schiffer hätten lediglich einen böhmischen Steuermann an Bord nehmen müssen, so hieß es. Es gab also eine gewissermaßen stillschweigende Übereinkunft zum Verkehr auf der Wasserstraße. Diese Praxis sollte zum gegenseitigen Vorteil noch erweitert und erleichtert werden, so die Empfehlung der sächsischen Kommerzien-Deputation. Dieses Vorgehen markierte den Beginn einer Grenzöffnung für den Handel im Bereich der Wasserstraße.
An der Grenze zu Preußen zeichnete sich eine vergleichbare Situation ab. Auf den Schiffsverkehr, der sich auf dem an Preußen abgetretenen Teil des Elbstroms entwickelte, hatte die sächsische Landesregierung nun rechtlich keinen Einfluss mehr. Trotzdem gab es in diesem Bereich bemerkenswert große Freiheiten für sächsische Schiffer, auch dort auf Grundlage einer – wie es die Zeitgenossen interpretierten – „stillschweigenden Übereinkunft“. Ebenso wurde es preußischen Schiffern nicht länger verwehrt, die neue preußisch-sächsische Grenze oberhalb von Mühlberg nach Sachsen zu passieren. Die sächsischen Beamten beschrieben diese Situation als ein Kuriosum, denn magdeburgische und brandenburgische (also urpreußische) Waren überfuhren auf Wittenberger und Torgauer (also ehemals sächsischen) Schiffen geduldet und unkontrolliert die preußisch-sächsische Grenze.
Die Grenze im Fluss hatte sich als unüberwindliches Hindernis für die Schiffer nahezu aufgelöst. Die Beamten diskutierten nun, ob das Ergebnis dieser Entwicklung – dass also an der sächsischen „Ober- und Niederelbe“ das bisher übliche Sperrsystem außer Kraft gesetzt würde – eigentlich Vor- oder eher Nachteile für die Handelsinteressen der einheimischen Bevölkerung zeitigte. Diese Frage ließ sich noch nicht eindeutig beantworten, denn obwohl die Beschlüsse des Wiener Kongresses „in Hinsicht auf die allseitige Freiheit der Flußschiffahrt“ den Landesverwaltungen durchaus bekannt waren, hatten sich bislang keine eindeutigen Handlungsstrategien daraus entwickelt. Überlegungen, die Freigabe der Schifffahrt für die ausländischen Schiffshändler in Sachsen einzuschränken – beispielsweise durch die Begrenzung der freien Strecke oder durch die Pflicht zum Einsatz sächsischer Schiffsbesatzungen auf den böhmischen Schiffen oder durch die Verweigerung von Rückfrachten – blieben eher diffus. Diese Maßnahmen sollten aber nicht dazu führen, die gewonnenen Freiheiten sächsischer Schiffer auf den ausländischen Flussabschnitten erneut einzuschränken. Die Empfehlung, die bereits geübte Offenheit im Fall von Fahrten böhmischer und preußischer Schiffe auf dem sächsischen Elbabschnitt fortzusetzen, muss man für diese Zeit als ausgesprochen zukunftsorientiert bezeichnen.
Diese Nachsichtigkeit im Umgang mit überlebten Gesetzeswerken zur Handelsschifffahrt auf der Elbe öffnete dem Austausch von Waren durch den sich neu etablierenden Beruf des Flussschiffers viele Möglichkeiten. Es dauerte noch vier Jahre, bis die durch die Verfügungen der Schlussakte geforderte Kommission, die aus Vertretern aller Anrainerstaaten bestand, ihre Arbeit aufnahm, um die Elbschifffahrt im Sinne der Festlegungen des Wiener Kongresses gemeinschaftlich neu zu regeln. Nach zwei Jahren, in denen auf 44 Konferenzen zäh verhandelt worden war, gelangten die Bevollmächtigten mit der Unterzeichnung der Elbschifffahrtakte am 23. Juni 1821 zum Abschluss ihrer Bemühungen. In Kraft trat das Gesetz, mit dem in 33 Artikeln und fünf Anhängen (Gewichtstabelle, Streckentarif, Währungstabelle, Manifest, Zollquittung) die künftige Nutzung des Elbstroms geregelt wurde, endgültig am 1. März 1822.
In der Zeit zwischen 1815 und 1822 hatte sich der Fluss bereits zu einem vergleichsweise freien, Landesgrenzen überschreitenden Handelsweg entwickelt, der trotz der immer noch hohen finanziellen Belastungen für die Handeltreibenden eine positive Vorausschau auf künftige Möglichkeiten erlaubte. Voraussetzung dafür war der repressionsfreie, liberale Umgang mit den Schifffahrttreibenden, die als Untertanen von zehn Anrainerstaaten in den meisten Häfen als Ausländer anlegten. Mit der Verabschiedung der Elbschifffahrtsakte wurde das über Jahre ohne rechtliche Grundlage auf dem Fluss geübte Verfahren als Recht anerkannt und der Verkehrsweg entwickelte sich zu einem interkulturellen Begegnungsraum. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts war dabei die Etablierung der Berufsverbände der Schiffer in Sachsen, Anhalt und Böhmen von besonderer Bedeutung. Spezifische Kommunikations- und Begegnungsräume stellten die Schutz- und Umschlaghafenanlagen dar.
Zum Weiterlesen
MARTIN, Andreas, Elbschifferkultur. Zu Genese und Wandel im 19. Jahrhundert, in: Volkskunde in Sachsen 22 (2010), S. 51-72.
ROOK, Hans-Joachim, Die Entwicklung der Elbschiffahrt zwischen Hamburg und Bad Schandau im 19. Jahrhundert sowie deren Einfluß auf die Standortentwicklung des verarbeitenden Gewerbes längs des Stromes, Diss. Potsdam 1970.
SOETBEER, Adolph, Die Elbzölle, Aktenstücke und Nachweise 1814–1859, nebst einer Einleitung über die Flussschifffahrts-Bestimmungen der Wiener Kongressakte und die Elbzollfrage, Leipzig 1860.
THEUERKAUF, Gerhard, Die Handelsschiffahrt auf der Elbe – Von den Zolltarifen des 13. Jahrhunderts zur „Elbe-Schiffahrts-Acte“ von 1821, in: Die Elbe. Ein Lebenslauf. Labe. Zivot reky (Ausstellungskatalog des Deutschen Historischen Museums Berlin), Berlin 1992, S. 69-75.