Bitte flüchten Sie weiter…! Abgewiesene Flüchtlinge heute und nach dem Zweiten Weltkrieg
von Uta Bretschneider
Liebe Asylschwindler! Bitte flüchten sie weiter, es gibt hier nichts zu wohnen!, war Ende Januar auf Schildern am Ortseingang von Sondershausen im Norden Thüringens zu lesen. Verschiedene Zeitungen und online-Medien berichteten über diese Aktion Unbekannter, darunter auch die Facebook-Seite „Sondershausen gegen Asylmissbrauch“. 2.627 Personen „gefällt“ die Seite, auf der offen gegen vermeintlichen „Asylmissbrauch“ gehetzt wird. Die Autoren stellen die vermeintlich ungewisse Zukunft eines einheimischen Kindes dem gesicherten Bestand eines Asylbewerberheimes entgegen, verweisen auf angeblich von Migranten begangene Verbrechen und rufen zum Protest auf. Auch die Schilder, die verkünden, für „Asylschwindler“ sei in Sondershausen kein Platz, sind ein Thema. Am 19. Januar heißt es in einem Post mit mehreren Fotos: Ups… was ist denn da passiert? Da sind doch tatsächlich in den letzten Tagen einige zusätzliche Schilder an die Ortseingangsschilder angebracht wurden. Hoffen wir mal[,] das[s] es sich die Asylschwindler zu Herzen nehmen und zukünftig einen großen Bogen um unser Sondershausen machen!!! Ein zwinkernder Smiley folgt. Die offene Sympathie für die Aktion bestürzt ebenso wie die Reaktionen: Der Beitrag „gefällt“ 1.145 Facebook-Nutzerinnen und -Nutzern. (https://www.facebook.com/sdh.sagt.nein, 05.02.2015) Dabei halten sich gegenwärtig allenfalls etwa 150 Asylsuchende in der 22.000-Einwohner-Stadt auf, der Anteil ausländischer Personen an der Gesamtbevölkerung liegt bei 1,4 Prozent.Das Szenario ist kein neues, auch wenn die Rahmenbedingungen andere sind: Die Abwehrreaktionen in Sondershausen im Jahr 2015 erinnern an die Abweisung vieler Flüchtlinge und Vertriebener gegen Ende des Zweiten Weltkrieges. Auch damals verweigerten Bürgerinnen und Bürger die Aufnahme von „Fremden“, wenngleich es sich um deutsche Staatsbürger aus den ehemals deutschen oder deutsch besiedelten Territorien im östlichen Europa handelte.Die Zeitschrift „Die neue Heimat“, das Organ der Zentralverwaltung für deutsche Umsiedler, berichtete im November 1947 in einem Artikel über die Einwohnerinnen und Einwohner einer Stadt in Thüringen: Sangerhausen nennt sich die „Rosenstadt“. Uns will es scheinen, als wären die Rosen, die das Städtchen so stolz in seinem Wappen führt, zu einer dichten Hecke zusammengewachsen, hinter der die Bewohner friedlich einen Dornröschenschlaf halten. Hoffen wir, daß bis zum Eintreffen des nächsten Transportes ein Prinz sie wieder wachgeküßt hat. Zwischen Sangerhausen und Sondershausen liegen ca. 40 km, zwischen den Ereignissen knapp 70 Jahre. Und doch: Das hier vermittelte Bild einer Stadt, die sich hinter Dornen vor dem Zuzug von Flüchtlingen versteckt, scheint beängstigend aktuell.Immer wieder berichtete „Die neue Heimat“ vom Bemühen der einheimischen Bevölkerung, Flüchtlinge abzuweisen und über weitere diskriminierende Verhaltensweisen. Aus Meißen schrieb eine Vertriebene vier Jahre nach Kriegsende: Wir können hier nicht immer von einer neuen Heimat sprechen, und es gibt viele von uns, die nicht einmal hier begraben sein möchten. So viel Leid haben wir in Sachsen von den Einheimischen schon erfahren. […] Hier sitzen die Leute alle in ihrem schönen Heim, haben ihr Einkommen, ihre Grundstücke, Gärten usw. Für sie ist der Krieg längst vergessen. […] Die Hausbesitzer hier leben wie im Frieden, und wir, die wir große Werte lassen mußten, hausen in einer Stube ohne Sonnenschein. Auch diese Erfahrung lässt sich auf die heutige Situation übertragen: Hauseigentümer verweigern die Vermietung an Asylsuchende – zuletzt wurde der Fall eines Dresdner Hoteliers bekannt, dessen Pläne, sein Haus zu einem Flüchtlingsheim umzufunktionieren am massiven Protest der Nachbarschaft scheiterte.Der Anteil der Flüchtlinge und Vertriebenen lag in der Sowjetischen Besatzungszone nach dem Zweiten Weltkrieg bei etwa 25 Prozent. Es ist wahrscheinlich, dass nicht wenige derer, die heute bei Facebook gegen die Aufnahme Fremder argumentieren, die Enkel jener Flüchtlinge und Vertriebenen des Zweiten Weltkrieges sind. Sie sind die Nachfahren der 4,3 Millionen Menschen, die in das Gebiet der späteren DDR gelangten und denen die Einheimischen längst nicht immer Hilfsbereitschaft entgegenbrachten.
Auch damals wurden die Flüchtlinge als „Fremde“, „Habenichtse“ oder „Polacken“ beschimpft. Im Rahmen des Forschungsprojektes „Fremde – Heimat – Sachsen“ des Instituts für Sächsische Geschichte und Volkskunde (http://www.neubauern-sachsen.de/) berichten viele Interviewpartner von derartigen Erfahrungen. Karla Seiler (Jg. 1936), die mit ihrer Familie aus Schlesien vertrieben wurde, erinnert sich: Nicht jedes Kind schloß Freundschaft mit uns: Wir wurden als Polenpack beschimpft und wir wären noch da, wo wir hergekommen sind, wenn wir zur Arbeit getaugt hätten. Wenige nur glaubten, dass wir auch mal etwas besessen hatten. Ernst Wischnowski (Jg. 1939) aus Schlesien schildert die Ablehnung, die er und seine Familien nach der Ankunft in Sachsen erfuhren, wie folgt: In S., da haben wir bei einem Bauern gewohnt. Da hat meine Mutter dann gefragt – wir haben in so einer alten Kammer geschlafen –, ob sie uns wenigstens mal bissel Stroh geben, wo wir drauf schlafen können. Und da hat die Frau gesagt: ‚Was sollen wir denn dann unserm Viehzeug geben zum Einstreuen?‘
Margarethe Gärtner (Jg. 1936), die ebenfalls aus Schlesien stammt, ist die Erfahrung der Ausgrenzung bis heute sehr präsent: Die hier Ansässigen, die sahen uns ja wie so Ausländer: ‚Und jetzt kommen die und wollen uns vereinnahmen.‘ Dass wir aber alles verloren hatten und nicht freiwillig gekommen sind … Wir mussten ja wirklich raus, wir mussten alles verlassen und haben dadurch keinen guten Start gehabt. Und hatten hier auch keinerlei Bekannte oder Verwandte. Der Aufbau im Nachkriegsdeutschland ist – trotz der vielfältigen Konflikte und Verwerfungen – in der Rückschau ohne das Wissen und Können, ohne das Engagement und Arbeitskräftepotenzial der Flüchtlinge und Vertriebenen undenkbar. Mittlerweile blicken die Menschen, die als Kinder Flucht und Vertreibung, aber auch Ausgrenzung und Anfeindung erleben mussten, meist versöhnlich auf ihre Geschichte zurück. Und auch diejenigen, die heute in den sozialen Netzwerken Hass gegen Fremde schüren, sollten einen Blick in die eigene Familiengeschichte werfen: Fremdheitserfahrungen wiederholen sich und sind gewiss auch in der Geschichte der eigenen Familie zu finden.
Zum Weiterlesen:
KOSSERT, Andreas , Kalte Heimat. Die Geschichte der deutschen Vertriebenen nach 1945, München 2008.
SPIEKER, Ira/FRIEDREICH, Sönke (Hg.), Fremde – Heimat – Sachsen. Neubauernfamilien in der Nachkriegszeit, Beucha/Markkleeberg 2014.