Arbeitskräftemangel und saisonale Beschäftigung um 1900 – Gelebter Alltag oder nationale Gefahr?

von Ira Spieker

Im November 1906 rief ein Zeitungsartikel im sächsischen Innenministerium besonderes Interesse hervor: Berichtet wurde über die Pläne des landwirtschaftlichen Vereins im ungarischen Komitat Békés, 15.000 bis 20.000 „Kulis“ aus China für Erntearbeiten einzuführen(HStA DD 10736, Ministerium des Innern, Nr. 15857, Bd. 3, Bl. 49). Diese auf den ersten Blick ungewöhnlich erscheinende Maßnahme sollte dem Mangel an Saisonarbeitern in der Erntezeit abhelfen. Vor allem jedoch wollte der Verein dadurch Druck auf die vorhandenen Arbeitskräfte ausüben, auf ihre Forderungen nach einer Verbesserung von Arbeitsbedingungen und Vergütungen zu verzichten. Die drohende Konkurrenz von außen ließ auf Vertragsabschlüsse zu den alten Konditionen hoffen.

Die Idee, chinesische Arbeiter für den Einsatz in der Landwirtschaft nach Ungarn zu bringen, war so außergewöhnlich nicht. Die westpreußische Landwirtschaftskammer hatte bereits anderthalb Jahrzehnte zuvor die Anwerbung chinesischer „Kulis“ in großem Stil angeregt. Die Vorschläge entsprangen nicht den exotischen Phantasien isolierter Gutsbesitzer, sondern orientierten sich an der Praxis anderer Staaten, die bereits Erfahrungen mit asiatischen Saisonarbeitern gemacht hatten. So hatte Ende des Jahres 1899 auch Kaiser Wilhelm II. einen Bericht über die Beschäftigung chinesischer Kulis in Deutschlandeingefordert.

Wer aber war mit „Kuli“ gemeint? Diese Bezeichnung fasste zunächst alle Tagelöhner ohne eigenen oder gepachteten Besitz in Vorderindien, später vor allem diejenigen Arbeiter aus Ostasien (insbesondere aus Japan und China), die verstärkt ab Mitte des 19. Jahrhunderts angeworben wurden. Der Bevölkerungsanstieg in China förderte die Arbeitsmigration nach Übersee; zeitgleich entwickelte die Entdeckung von Goldvorkommen in den USA und Australien eine Sogwirkung, die mehr als 150.000 chinesische Arbeiter in alle Welt zog – freiwillig wie auch gegen ihren Willen. Sie arbeiteten vor allem im Eisenbahnbau und in der Landwirtschaft.

Arbeitsmigration und Leutenot

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gab es auch in vielen deutschen Staaten einen eklatanten Arbeitskräftemangel. Landfluchtund Leutenot waren seit den 1850er-Jahren prägende Schlagwörter in der öffentlichen Diskussion. Die Leutenot bezeichnete keineswegs die schlechten wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen, mit denen sich Arbeitende in der Landwirtschaft konfrontiert sahen, sondern gab im Gegenteil die Mangelsituation der Arbeitgeber wieder: Insbesondere in mittel- und großbäuerlichen Betrieben fehlten Arbeitskräfte in erheblichem Ausmaß. Bessere Verdienstmöglichkeiten und ganzjährige Beschäftigung in industriellen Betrieben sowie weniger reglementierte Lebensumstände ließen diese Alternative deutlich attraktiver erscheinen. Wander- und Saisonarbeiterinnen und -arbeiter wurden daher bereits seit Mitte des 19. Jahrhunderts benötigt, um den Personalbedarf in Produktionsspitzen annähernd zu decken.

Dabei handelte es sich um ein Phänomen von gigantischem Ausmaß; die massenhaften Wanderbewegungen erstreckten sich über ganz Mitteleuropa. Fast schon sprichwörtlich sind die so genannten Hollandgänger, die aus strukturschwachen Gebieten deutscher Staaten stammten und Arbeit oder bessere Verdienstmöglichkeiten im niederländischen Land- und Gartenbau suchten. Bei den „Sachsengängern“ hingegen handelte es sich vor allem um Saisonarbeiter im Zuckerrübenanbau in der preußischen Provinz Sachsen – vorzugsweise aus Oberschlesien, was wiederum dringend benötigte landwirtschaftliche Arbeitskräfte aus jener Gegend abzog.

Aus Bulgarien machte sich alljährlich im Frühjahr ein großer Zug von Menschen zur Wanderarbeit nach Rumänien, Südrussland und Ungarn auf den Weg. Sie kehrten jedes Jahr an denselben Ort zurück und betrieben dort Gemüsebau. Da sie als sehr qualifiziert galten, waren sie ausgesprochen begehrte Kräfte. Für die (unattraktive) Saisonarbeit im Deutschen Reich standen sie trotz entsprechender Anwerbungsversuche nicht zur Verfügung. Sachsen blieb allenfalls eine Notlösung für diejenigen bulgarischen Saisonarbeiter, die üblicherweise nach Amerika ‚pendelten‘ und Jahr für Jahr in ihre Heimat zurückkehrten.

Nationale Ein- und Abgrenzungen

Im Königreich Sachsen wurden, wie auch im benachbarten Preußen, vor allem polnische Saisonarbeiterinnen und -arbeiter in der Landwirtschaft beschäftigt. Ihre Arbeit und Präsenz auf den Höfen bildeten einen selbstverständlichen Bestandteil ländlicher Arbeitswelten. Bis in die 1880er-Jahre waren polnische Arbeitskräfte sehr geschätzt und hoch willkommen. Diese Haltung änderte sich in der Folge zunehmender Nationalisierungstendenzen. Im Jahr 1852 trat in Sachsen ein Staatsangehörigkeitsgesetz in Kraft; dennoch gab es zu jener Zeit kein einheitliches Verständnis von Staat oder Nation beziehungsweise deren gemeinschaftsbildender Funktion. Die Bestimmungen des Norddeutschen Bundes zum Passwesen von 1867 schärften dann, ebenso wie die Reichsgründung vier Jahre später, die Definitionen von Staat und Nation: Nun wurde ‚fremd‘ zumeist im Zusammenhang mit nationaler Zuordnung definiert. Vorbehalte und Abgrenzungsbestrebungen gegen Angehörige anderer Nationen waren die Folge, die mit der Betonung von vermeintlich moralisch-ethischer Unterlegenheit bekräftigt wurden.

Die geforderte Anspruchslosigkeit der Arbeitskräfte, gestützt durch die angetroffenen Bedingungen wie desolate Unterkünfte und schlechte Bezahlung, dienten schließlich als Rechtfertigung dafür, diese Menschen sozial abzuwerten und zu stigmatisieren. Die Saisonkräfte sahen sich dementsprechend in einem Teufelskreis gefangen, aus dem sie nur schwer ausbrechen konnten – besonders da fehlende Sprachkompetenz und mangelnde rechtliche Absicherung ihren Handlungsrahmen und ihre Verhandlungsmöglichkeiten stark einschränkten.

Bereits 1885 erließ Preußen einen Ausweisungsbeschluss, der 40.000 polnische Staatsangehörige betraf. Die Gutsbesitzer verloren damit ein Drittel ihrer Arbeitskräfte – eine wirtschaftlich unhaltbare Situation. Sachsen schloss sich den Abschottungstendenzen nicht an; die Ressentiments gegenüber den polnischen Saisonarbeiterinnen und -arbeitern machten jedoch an den sächsischen Grenzen keineswegs halt: National gesinnte Politiker und Publizisten schürten die Angst vor einer drohenden „Slawisierung“. Bei der breiten Bevölkerung fiel diese fremdenfeindliche Propaganda auf fruchtbaren Boden – insbesondere dann, wenn um die eigenen Verdienstmöglichkeiten gebangt wurde. Briefe an das sächsische Innenministerium zeugen von dieser Furcht, die sich auch auf andere „Fremdarbeiter“ ausdehnte. Die Verfasser solcher Eingaben stilisierten sich oftmals als heimatverbundene Retter für unser kleines liebes Sachsenland, das sie vor Überfremdung und Zustrom schützen wollten (vgl. HStA DD 10736, Ministerium des Innern, Nr. 15855, Bl. 52 f.). Die Beschwerde von Friedrich August Wilhelm Pfützner aus Pirna vom November 1890 gegen die Zuwanderung von böhmischen Arbeitskräften veranlasste tatsächlich eine Umfrage innerhalb der Kreisdirektion Dresden. Das Ergebnis war überraschend einhellig: Die Verwaltungsbezirke machten deutlich, dass sie auf ausländische Arbeitskräfte weder verzichten konnten, noch wollten. Arbeiter aus Böhmen wurden zudem als ausdauernder, geschickter und genügsamer bezeichnet als die einheimischen Kräfte. Zudem erfuhr die Spezialkenntnis bestimmter Handwerke eine besondere Wertschätzung: Neben den böhmischen Maurern und österreichischen Spinnerinnen sollten beispielsweise italienische Arbeiterinnen aus den Kunstseidefabriken in der Mailänder Region ihre Expertise ‚importieren‘.

Das Konkurrenzdenken übertrug sich übrigens auch auf die zwischenmenschliche Ebene: Die gefürchteten leistungsstarken Saisonarbeiter trafen angeblich auf Frauen, die aufgrund ihrer bekannten Vorliebe der deutschen Weiblichkeit für alles Ausländische, vor allem für das Exotische besonders gefährdet schienen – so zumindest die männlichen Ängste (zitiert nach Conrad 2003, S. 86).

Die Arbeitgeber jedenfalls urteilten in der Regel pragmatisch; sie entschieden aufgrund ihrer Erfahrungen und ließen sich vom wirtschaftlichen Bedarf leiten. Die chinesischen „Kulis“ galten in den Kreisen ostelbischer Gutsbesitzer als „ordentlich“ und „ehrlich“; entsprechende Informationen, die das preußische Innenministerium im Reichsmarineamt eingeholt hatte, bestätigten diese Einschätzung. Zu einer Anwerbung in großem Stil kam es aber nicht.

Jenseits der nationalen Zugehörigkeiten und der damit verbundenen Abschottungstendenzen bestanden dennoch weiterhin Zuzugsmöglichkeiten für ‚fremde‘ Arbeitskräfte. Sie wurden oft geschätzt, immer jedoch gebraucht: Sie waren für das Funktionieren der Wirtschaft einfach unverzichtbar.

Zum Weiterlesen:

Conrad, Sebastian, ‚Kulis‘ nach Preußen? Mobilität, chinesische Arbeiter und das Deutsche Kaiserreich 1890–1914, in: Comparativ. Leipziger Beiträge zur Universalgeschichte und vergleichenden Gesellschaftsforschung 13 (2003) H. 4, S. 80-95.

Herbert, Ulrich, Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880–1980. Saisonarbeiter, Zwangsarbeiter, Gastarbeiter, Berlin/Bonn 1986.

Hahn, Hans Henning/Hahn, Eva, Nationale Stereotypen. Plädoyer für eine historische Stereotypenforschung, in: Hans Henning Hahn, unter Mitarb. von Stephan Scholz (Hg.), Stereotyp, Identität und Geschichte. Die Funktion von Stereotypen in gesellschaftlichen Diskursen, Frankfurt/M. u.a. 2002, S. 17-56.

Nichtweiß, Johannes, Die ausländischen Saisonarbeiter in der Landwirtschaft der östlichen und mittleren Gebiete des Deutschen Reiches. Ein Beitrag zur Geschichte der preußisch-deutschen Politik von 1890 bis 1914, Berlin 1959.

Spieker, Ira, Bilder in Bewegung? Mobilität und Stereotype in sächsischen Grenzregionen im 19. Jahrhundert: Zur Nationalisierung und Ethnifizierung von Fremdheit, in: Reinhard Johler/Max Matter/Sabine Zinn-Thomas (Hg.), Mobilitäten. Europa in Bewegung als Herausforderung kulturanalytischer Forschung, Münster u.a. 2011, S. 500-509.

Bild: Spargelernte in Staffelde. SLUB Dresden/Deutsche Fotothek, Nr. elb_euroluftbild_0033699, Foto: Robert Grahn (2014).

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