Fundstück aus dem LGA – im November 2019

(Un-)eingeschränkte Mobilität: Ostdeutsches Reisen nach dem 9. November 1989

Im Dokument des Monats für November 2019 erinnert sich ein Reiseberichterstatter an folgende Überlegung am Abend vor Reisebeginn: „Wir verreisen ja nicht das erste Mal mit unserem Auto, aber eine solche Fahrt hatten wir noch nie. Was werden wir erleben?“ Die Frage nach dem Erleben auf einer bisher unbekannten Reise stellte sich für ein Leipziger Ehepaar am 10. November 1989, es ging um eine Fahrt in die seit wenigen Stunden für zahlreiche DDR-Bürger*innen erreichbare Bundesrepublik.

Die plötzlich möglich gewordenen Bewegungen und Kontaktaufnahmen zwischen „Ost“ und „West“ haben recht feste bildliche Repräsentation in der Erinnerungskulturlandschaft. Der Migrationshistoriker Frank Wolff hat jüngst etwa dieses Panorama gezeichnet: „So wie sich Baustoffhändler, Autoverkäufer, Versicherungsvertreter und bald auch Verwaltungsbeamte in Goldgräberstimmung gen Osten aufmachten, strebten Hunderttausende DDR-Bürger an die ersehnten Verkaufstheken des Westens. Jubelbilder haben sich ins kollektive Gedächtnis eingeprägt: Tanz auf der Mauer, Willkommensklopfen auf das Dach der Trabis, Sektflaschen, Umarmungen von Wildfremden und zu guter Letzt auch noch David Hasselhoff am Brandenburger Tor.“ (S. 912f.)

Die Leipziger Eheleute machten sich mit einem befreundeten deutsch-sowjetischen Ehepaar am Morgen des 11. November auf den Weg, um über den Grenzübergang Rudolphstein das fränkische Coburg zu besuchen. Jedoch: „Gegen 7.20 sehen wir vor uns eine ganz seltene Erscheinung, das Ende eines Staus.“ Es sollte, was die Reisenden allerdings erst in der Dämmerung akzeptieren konnten, das Ende dieser Reise sein.

Mit diesem Erlebnis waren sie wohl nicht allein. Am Wochenende nach dem „Mauerfall“ sind mehr als drei Millionen DDR-Bürger*innen in die Bundesrepublik gereist, Staus und logistisch überlastete Innenstädte waren vielerorts die Folge.

So wie die kurze erinnerungskulturelle Skizze einer gewissen Komik nicht entbehrt, mag auch der gescheiterte Reiseversuch mit 30-jährigem Abstand zu einem Schmunzeln verlocken. Jedenfalls ergänzt er die Erzählung der oben erwähnten Jubelbilder und steht viel mehr für eine wenigstens frustrierende, vielleicht auch beunruhigende Erfahrung, da zumindest zu diesem Zeitpunkt noch Zweifel an der Dauer der neuen Reisefreiheit bestehen konnten. Der Berichterstatter erinnert sich jedenfalls daran als eine vertane, „vielleicht einmalige Chance nur zum Umsehen“.

Allerdings bildete die verhinderte Westreise im November 1989 schließlich doch den Auftakt zu einer regen Reisetätigkeit, die in Reiseberichten der Eheleute – manchmal bis auf Restaurantrechnungen hin detailliert – festgehalten worden ist. Der mitunter reich bebilderte Bestand im LGA erstreckt sich von Berichten aus den Jahren vor 1989 bis in die erste Hälfte der 2000er-Jahre. Er deckt alte, nun neu besuchte Reiseziele im ehemals sozialistischen Ausland ebenso ab wie Reisen nach Israel und China.

Über das frustrierende Stau-Ende hinaus lassen die Berichte am reisenden Beobachten der Transformationszeit nach 1989/90 teilhaben: Etwa erfahren wir über das östlich von Bratislava gelegene Devín und seinen Flusskreuzfahrthafen, dass „in früheren Jahren hier […] die Kreuzfahrtschiffe derer mit dem Glück der westlichen Geburt vorüber [zogen] und die Schiffslände durch Grenzpolizei bewacht gewesen [war].“ Nun, im August 1990 war diese Grenze für die Reisenden aus der DDR kaum mehr wahrnehmbar, Polizisten nur noch Szenerie. Und während vor 1989/90 auf den DDR-Kreuzfahrtschiffen „Völkerfreundschaft“, „Fritz Heckert“ und „Arkona“ auch ohne Glück westlicher Geburt gereist werden konnte, machten die Eheleute erstmals 1992 eine Kreuzfahrt, allerdings nicht auf der Donau, sondern in der Ostsee, um die Perlen des Nordens zu besuchen.

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