Fundstück aus dem ISGV – im September 2024
Ein Blick über den Tellerrand: Touristische Erinnerungen ans Riesengebirge – Krkonoše – Karkonosze
von Claudia Pawlowitsch
„Schon viele Jahre ziehen mich die silbernen Höhen des Riesengebirges in ihren Bann. Aus der winterlichen Ebene und aus Tälern, die sich mit dem ersten zarten Grün des Frühlings schmückten, bin ich wieder und wieder zu ihnen emporgezogen.“ - Paul Gimmel (Bestand Naturfreunde, Sammlung Joachim Schindler)
„[J]eden Herbst, in den Herbstferien immer drei Tage Riesengebirge, Isergebirge […] Also Riesengebirge und Isergebirge kennen wir wirklich bald jeden Weg, ob wir so gegangen sind oder so gegangen sind, den kennen wir.“ - Sarina Hille (LGA 99, Ethnografie des Grenzraums)
Es wird Herbst. Zeit zum Wandern – Zeit, über den sächsischen Tellerrand zu schauen ... Vielleicht ins Riesengebirge? Warum nicht! Es wäre zumindest nicht ungewöhnlich, das zu tun, denn das Riesengebirge als (touristische) Erinnerungslandschaft im sozial- und kulturhistorischen Sinne findet sich in vielen Dokumenten wieder, die im Lebensgeschichtlichen Archiv (LGA) und in den Sammlungen des Instituts aufbewahrt werden. Dazu zählen Reiseberichte, Fotografien und Interviews. Einige dieser »Fundstücke« werden nachfolgend vorgestellt.
Das Riesengebirge, aus nationalstaatlicher Perspektive, erstreckt sich an der Grenze zwischen der polnischen Woiwodschaft Niederschlesien und dem tschechischen Liberecký und Královéhradecký kraj. Das geografisch zu den Sudeten zählende 631 km² große Gebirge mit seinem subalpinen Charakter bildet die Wasserscheide zwischen Ost- und Nordsee. Besucht werden kann das heute zu großen Teilen als Nationalpark geschützte Gebirge zu jeder Jahreszeit: Im Winter sind es vor allem die meist schneesicheren Skigebiete wie Špindlerův Mlýn (Spindlermühle) und Harrachov (Harrachsdorf) auf tschechischer Seite sowie Szklarska Poręba (Schreiberhau) und Karpacz (Krummhübel) auf polnischer Seite, die Besucher:innen anziehen.
Zu den sommerlichen Wanderzielen zählen neben dem höchsten Gipfel des Riesengebirges, der 1603 Meter hohen Schneekoppe (Sněžka, Śnieżka) mit ihren Gipfelbauden, auch der Reifträger (Szrenica, Jínonoš) und die Elbquelle.
Der sehr einprägsame Name des Gebirges verbreitete sich im 18. Jahrhundert; in älteren Dokumenten wird die Berglandschaft auch als Schneegebirge oder Böhmisches Gebirge bezeichnet. Woher der Name „Riesengebirge“ genau stammt, ist umstritten. Eine mögliche Erklärung lieferte Ernst von Seydlitz: Hölzerne Rinnen – »Riesen« genannt – wurden von Holzfällern zum Abtransport geschlagener Baumstämme aus steilen Gebirgstälern verwendet. Die Besiedlung und damit die forstwirtschaftliche Bewirtschaftung und bergbauliche Nutzung setzte mit der Gründung von Hirschberg (Jelenia Góra) auf polnischer Seite im 13. Jahrhundert und Ende des 18. Jahrhunderts auf tschechischer Seite mit der Ansiedlung von Kolonisten aus dem Alpenraum ein. Letztere brachten die typisch alpinen Bewirtschaftungsformen, wie beispielsweise die Weidewirtschaft inklusive der Errichtung von Bergbauden, mit. Viele dieser für das Riesengebirge prägenden Gebäude wurden im 18. und 19. Jahrhundert zu touristischen Übernachtungshütten und Gasthäusern umgewandelt.
Besonderen Anteil an dieser Entwicklung hatten die im ausgehenden 19. Jahrhundert gegründeten Touristenvereine: der Schlesische Riesengebirgsverein und der Österreichische Riesengebirgsverein. Diese förderten die infrastrukturellen Erschließungsmaßnahmen einer aufkommenden Tourismusindustrie. Gleichzeitig spiegelten sich in diesen touristischen Werbemaßnahmen die zeittypischen Heimat- und Nationalisierungsdiskurse (wie die Rübezahllegende, die Vorstellung einer »deutschen Heimat« oder die Bismarcktürme) wider.
Auch heute erfüllen viele dieser Bauden, wie die Wiesenbaude (Luční bouda), die Wosseckerbaude (Vosecká bouda) oder die Neue Schlesische Baude (Schronisko na Hali Szrenickiej) noch ihren Zweck als Unterkunfts- und Gasthaus für Hüttenwanderer:innen.
Dass Hüttentouren eine attraktive sommerliche Freizeitbeschäftigung waren, legt beispielsweise das Tagebuch von Bertha Hörber (LGA 21, Tagebuch Bertha Hörber) aus Zittau nahe, die im Sommer 1900 eine einwöchige Wanderreise ins Riesengebirge unternahm und rückblickend darüber berichtete. Stationär und mit naturkundlichem Interesse an Flora und Geologie reisten im Juni 1940 die Dresdner Paul Lommer, Johannes Thumm, Fritz Petzold, Gerhard Schäfer und Paul Gimmel nach Petzer (Pec pod Sněžkou). Ihre Wanderungen und Entdeckungen dokumentierten sie in einem Album, das nun im ISGV im Bestand Naturfreunde (Sammlung Joachim Schindler) zu finden ist und neben den schriftlichen Erinnerungen auch zahlreiche Fotografien und ein kleines Herbarium enthält.
Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges veränderte sich durch Vertreibungen, Um- und Neuansiedlungen die Zusammensetzung der Bevölkerung rapide. Ebenso wurden durch Umbenennungen von Straßen und Orten die bisherigen Bezugssysteme sowie (historische) Narrative umgedeutet oder neu entworfen.
Mit Einschränkungen wurde der Tourismus auch nach 1945, etwa durch den Ausbau der Skigebiete oder den Bau zahlreicher Lifte, weiter betrieben. So war der grenzüberschreitende Weg über das Gebirge, der als polnisch-tschechischer Freundschaftsweg oder Kammweg bekannt ist, in den 1980er-Jahren nur noch polnischen und tschechoslowakischen Bürger zugänglich. Ausländischen Besucher:innen wurde die Nutzung untersagt.
Das Riesengebirge als frei zugänglicher Natur- und Erholungsraum, wurde damit für diejenigen zur unüberwindbaren geopolitischen Grenze deren Bewegungsmöglichkeiten an den Besitz des »richtigen« Passes geknüpft worden. Ein Vorgang, den Helmut Rudloff (LGA-35, Jahresbriefe und Urlaubsberichte der Familie Rudloff (1977-2011)), der im September/Oktober 1989 mit seiner Frau seinen Urlaub im Riesengebirge verbrachte, in einem Reisebericht wie folgt beschrieb: „Vom polnischen Krummhübel (Karpacz) herauf und weiter auf die Schneekoppe hinauf herrscht ein starkes Begängnis meist jugendlicher Wanderer. Auch tschechische Wanderer können den Fußweg nach der Koppe benutzen. Nur für DDR-Wanderer ist (derzeit ?) der Aufstieg zur Koppe von hier nicht zulässig. Auch wenn ein einzelner polnischer Grenzer eine anscheinend überwiegend repräsentative Funktion ausübt, ist es wohl im Moment für mich als Mensch mit DDR-Ausweis nicht ratsam, einen „Grenzdurchbruch“ zu versuchen.“ Er wird zwei Meter vor der Grenzlinie stehen bleiben und wieder nach Pec pod Sněžkou (Petzer) in das Hotel „Horizont“ zurückkehren und erlebt inmitten des Gebirges die Umwälzungen der Ostblockstaaten. Unweit von ihnen verkündete am 30. September 1989 Hans-Dietrich Genscher vom Balkon der Prager Botschaft die Ausreisegenehmigung für alle DDR-Flüchtlinge, die in die Botschaft geflüchtet sind. Auch nach 1990 reisten die Rudloffs wieder in das Riesengebirge und konnten nun, ohne Probleme den »Grenzdurchbruch« vollenden.
Zum Abschluss sei für weitere Forschungen noch auf das Archiv ‚Gedächtnis des Riesengebirges‘ in Horní Maršov sowie auf die zweimal jährlich erscheinende, dreisprachige touristische Saisonzeitschrift ‚Veselý výlet - Ein lustiger Ausflug‘ verwiesen.