Fundstück aus dem ISGV – im Oktober 2024

Von Hexenwahn und Hexenforschung

von Katrin Mai und Antje Reppe

Aktuell umgeben uns böse grinsende Kürbisse oder auch Geister und Fledermäuse in Form von Dekorationsgegenständen in Geschäften und Haushalten – Halloween steht vor der Tür. Das US-amerikanische Herbstfest verankert sich langsam, aber stetig auch in Deutschland. Zu seinem Gefolge gehört die altbekannte Figur der Hexe. Mit zerrissenem langem Rock, Hakennase und spitzem Hut gilt sie als weibliche Ikone des Grusels und bevorzugte Halloweenkostümierung.

Doch nicht für jeden ist die Hexe ausschließlich eine Fantasiefigur. Eine Studie des US-Ökonomen Boris Gershman belegt auf Basis von Umfragen aus den Jahren 2008 bis 2017, dass noch immer über zehn Prozent der Deutschen an Hexen glauben. Mit diesem Wissen überrascht der Zufallsfund aus dem Bestand unserer Institutsüberlieferung (Archiv des Instituts für Volkskunde, AIfV) weniger. Zwischen einem Typoskript über die Bergmannssage der Langen Schicht von Ehrenfriedersdorf und diversen Zeitungsausschnitten zum Thema Volksglauben fand sich der Artikel: „Westdeutschland – unterentwickeltes Land: Hexenwahn wie im Mittelalter“. Laut handschriftlicher Datierung entstammt er der Zeitung Neues Deutschland (ND) vom 17.01.1962.

Aus ihm geht hervor, dass 95 Prozent der Westdeutschen an Hexen glauben würden. Oder zumindest, gemäß Angaben der Friedrichshafener Kriminalpolizei, 95 Prozent der Landbevölkerung am Bodensee. Diese Ergänzung erscheint neben den fettgedruckten Zwischenüberschriften als unwesentlich, verdeutlicht aber das journalistische Konzept der BILD-Zeitung. Diese Reduzierung ist es auch, die seitens der ND als „so eindeutig“ angenommen wird, dass sie den Artikel „ohne jeden Kommentar“ nachdruckt. Fast ohne, denn eine stetige Betonung, dass es sich hier um Westdeutschland handle, wird dann durchaus ergänzt. Für die Medien der DDR war der sensationsorientierte Beitrag der BILD ein gefundenes Fressen. Denn die Linie von Partei und Staatsführung der DDR lag in der klaren Abgrenzung gegenüber heterodoxen Wirklichkeitskonzepten. Paranormale Phänomene wurden als ‚Aberglaube‘ abgelehnt und im öffentlichen Diskurs negiert, sogar institutionell kontrolliert und sanktioniert. Dies sollte zum einen der Bestätigung der dem Marxismus-Leninismus eigenen wissenschaftlichen Weltanschauung dienen, die die Existenz paranormaler Phänomene ausschloss und jedes religiöse Denken als überlebt und bald überwunden begriff. Zum anderen bezweckte es die bewusste Abgrenzung gegen und Erhebung über westliche Gesellschaften.

Den institutionellen Repressionen zum Trotz blieb der Glaube an Übernatürliches in Ostdeutschland aber erhalten: Alltagsphänomene wie der Sichtung einer schwarzen Katze oder eines vierblättrigen Kleeblatts werden laut einer Umfrage des Instituts für Demoskopie in Allensbach aus dem Jahr 2005 von Ost- wie Westdeutschen gleichermaßen als ein Zeichen von Unglück beziehungsweise Glück gewertet. Diese Glaubenskonzepte sind tief in Kultur und Gesellschaft verwurzelt, sie reichen Jahrhunderte zurück.

In den Nachlässen und Sammlungen des ISGV finden sich dafür zahlreiche Belege. Vor allem das Corpus der Segen und Beschwörungsformeln (CSB), ein Teil das Nachlasses Adolf Spamers belegt umfangreich die Jahrhunderte andauernde Überlieferung alternativer Denkkonzepte.

Ein weiteres Beispiel findet sich im Nachlass des Lehrers und Volkskundlers Curt Müller: Dessen Schüler G. Beer hielt im Juni 1921 einen Vortrag zum „Aberglauben in der Oberlausitz“ und überließ das Manuskript danach seinem Lehrer. Beer belegte damals den „auch noch heute“ existierenden Aberglauben u. a. anhand der als Unglücksbotin gedeuteten von links nach rechts laufenden Katze, der Unglückszahl 13 oder fest zugeschriebenen Bedeutungen von Traumbildern.

So begegnen wir in unseren Sammlungen und Nachlässen sowie im Bildarchiv auch immer wieder Hexen, zuweilen auch ihren männlichen Pendants, den Hexenmeistern. Nach wie vor bieten sie bzw. ihre Deutung Potenzial für kulturwissenschaftliche Forschung. Seit einigen Jahrzehnten erfahren Hexen durch neureligiöse Bewegungen wie Wicca und Neuheidentum eine Umdeutung. Von der Gruselfigur ist sie nun zu einem Symbol der (insbesondere weiblichen) Selbstermächtigung und dem Einklang mit der Natur geworden.

Neugierig geworden? Dann empfehlen wir zur weiterführenden Lektüre:

Victoria Hegner, Hexen der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin, Bielefeld 2019.

Andreas Anton, Das Paranormale im Sozialismus. Zum Umgang mit heterodoxen Wissensbeständen, Erfahrungen und Praktiken in der DDR, Freiburg i. Br. 2017.

Victoria Hegner, Hexen der Großstadt. Urbanität und neureligiöse Praxis in Berlin, Bielefeld 2019.

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