Fundstück aus dem ISGV – im Oktober 2023

Naturerlebnis und Klassenkampf – Die Sammlung zu den sächsischen Naturfreunden am ISGV

von Henrik Schwanitz

Bildpostkarte „1911-1931. 20 Jahre Naturfreunde in
Leipzig“, 1931, BSNR 091806.

Skifahren, Wandern, Paddeln, Klettern, Häuser bauen: Auf diese Weise fasste die Leipziger Ortsgruppe des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ mit einer künstlerisch gestalteten Fotocollage ihre eigenen Vereinsaktivitäten im Jahr 1931 zusammen. Hintergrund dieser von der eigenen Fotogruppe entworfenen Zusammenstellung war das zwanzigjährige Jubiläum der Ortsgruppe. Die im Selbstverlag erstellte und publizierte Postkarte des sozialistischen Touristen- und Wandervereins befindet sich heute im Bestand des Digitalen Bildarchivs des ISGV. Sie ist damit Teil einer neuen, im Aufbau befindlichen Sammlung zur sächsischen Naturfreundebewegung, deren Ausgangspunkt eine Schenkung aus dem Besitz des Dresdner Bergsporthistorikers Joachim Schindler ist.

Fotobücher aus der Sammlung Schindler im ISGV.

Schindlers Sammlung umfasst unter anderem Fotobücher aus dem Umfeld der sächsischen Naturfreunde, Gründungsprotokolle einzelner Ortsgruppen, aber auch die Verbandszeitschrift „Der Wanderer“ oder Unterlagen zur Wiederbegründung der sächsischen Naturfreunde nach 1990. Die „Sammlung Schindler“ wird zudem ergänzt durch verschiedene Postkartensammlungen etwa aus dem Umfeld der Bannewitzer Ortsgruppe der Naturfreunde oder aus dem Kontext der sächsischen und internationalen Naturfreundebewegung, wozu auch die Postkarte der Leipziger Ortsgruppe gehört.
Die Gründung der Leipziger Naturfreunde im Jahr 1911 führt zurück in die Frühzeit der sächsischen Naturfreundebewegung. Erst 1909, also zwei Jahre zuvor, hatte sich in Dresden die erste Ortsgruppe des Touristenvereins „Die Naturfreunde“ gebildet. Sie war Teil der Naturfreundeorganisation, die sich 1895 im Umfeld der österreichischen Sozialdemokratie gegründet hatte und nach 1900 zur internationalen Naturfreunde-Bewegung entwickelte. Obgleich sich die Naturfreunde als ein Tourismus- und Sportverein verstanden, hatten sie ein darüber hinaus gehendes Ziel: Als Selbsthilfeorganisation wollten sie den Arbeiterinnen und Arbeitern Freizeit und Bildung ermöglichen. Sie wollten jene, die vermeintlich eingekerkert in düsteren Fabriken und dumpfen Stuben lebten, dazu animieren, die heimatliche Scholle zu erwandern, wie dies etwa der Dresdner sozialdemokratische Journalist und Schriftsteller Edgar Hahnewald (1884–1961) in seinem programmatischen Artikel "Vom Wandern" in der "Arbeiter-Jugend" 1909 beschrieb. So sollten Arbeiterinnen und Arbeiter – und vor allem die Arbeiterjugend – aus grauer Städte Mauern zu Natur geführt werden. Dieses Vorhaben war dabei genuin politisch. Denn der Ausgangspunkt der Bewegung war nicht die mangelnde Motivation oder fehlende Mobilität der Arbeiterschaft, sondern das Empfinden der Zeitgenossen, keinen freien Zugang zur Natur zu besitzen.

Fotobuch einer Fahrt des 1. Bezirks der sächsischen Naturfreunde in die Hohe Tatra 1931/32, Fotobuch aus der Sammlung Schindler im ISGV
Fotobuch einer Fahrt des 1. Bezirks der sächsischen Naturfreunde in die
Hohe Tatra 1931/32, Fotobuch aus der Sammlung Schindler im ISGV

Die Postkarte der Leipziger Naturfreunde lässt erahnen, welche Aktivitäten im Zentrum der Naturfreundearbeit standen. Wandernd, kletternd, paddelnd oder auf Skiern, aber auch durch die Linse des Fotoapparates erschlossen sich die Naturfreunde einen Zugang erschlossen zur Natur und Landschaft ihrer Heimat. Dass sie dabei nicht an den Grenzen Sachsens stehen blieben, zeigen etwa die eindrucksvollen Fahrtenbücher in die Daubaer Schweiz in Böhmen (1927) oder in die Hohe Tatra (1931/32)

Bildpostkarten „Naturfreundehaus am Zirkelstein“, vor 1933,
BSNR 091802.

Dabei ging es den Naturfreunden nicht um romantisches Lustwandeln in der Natur, nicht um ein ‚bloßes Wandern‘. Vielmehr wurde das „soziale Wandern“ als politischer Akt verstanden, der die Arbeiterinnen und Arbeiter für die herrschenden sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse der bereisten Region sensibilisieren sollte. Treffend formulierte dementsprechend der sächsische Gaujugendleiter Fritz Graf im Jahr 1928 in der Verbandszeitschrift: Liegt es nicht auf der Hand, daß, wenn wir von Not und Elend der erzgebirgischen Heimarbeiter lesen, wir bei nächster Gelegenheit hingehen und uns selbst davon überzeugen. […]. Unten im Tale, eng zusammengedrückt, die Elendshütten der Landarbeiter, und oben auf waldiger Höhe, das prunkvolle Schloß des Gutsherrn. Da die Naturfreunde es durchaus als ihre Aufgabe verstanden, den Sozialismus auch im ländlichen Raum zu propagieren, bildete auf ihren Reisen auch die Agitation einen wesentlichen Bestandteil. Im Fokus der Naturfreunde standen somit gleichermaßen Sport und Bewegung wie auch Naturerlebnis und Klassenkampf.

Zudem verdeutlicht die Postkarte der Leipziger Naturfreunde noch eine weitere Facette der Naturfreundearbeit, nämlich das aktive Besetzen der Landschaft durch den Bau von eigenen Häusern. In Sachsen entstand das erste dieser Häuser 1914 am Fuße des Zirkelsteins in der Sächsischen Schweiz (Einweihung 1917).

Das Naturfreundehaus am Königstein
(hier Bildpostkarte, zwischen 1925 und 1927, BSNR 091839)
war von März 1933 bis spätestens August 1933
ein Nebenlager des KZ Hohnstein
und diente vor allem der Inhaftierung politischer Gefangener.

Die Leipziger Postkarte zeigt das 1925 eingeweihte und noch heute existierende Heim bei Grethen, zwischen Naunhof und Grimma gelegen, das ab 1922 von den Naturfreunden in eigener Arbeit erbaut worden war.

Zwei Jahre nach Erscheinen der Postkarte der Leipziger Ortsgruppe fand das gemeinsame Wandern und Naturerleben ein jähes Ende. Die Nationalsozialisten verboten die sozialistische Naturfreundeorganisation. Ihre Häuser wurden frühzeitig von der SA besetzt und teilweise – wie im Falle des bei Königstein in der Sächsischen Schweiz gelegenen Naturfreundehauses - als Konzentrationslager für politische Gefangene benutzt. Erst nach Kriegsende kam es in Westdeutschland zu einer Wiedergründung der Naturfreunde, in der SBZ blieb diese aus. Obwohl das ideelle Erbe der Naturfreunde maßgeblich den Blick auf die sozialistische Landschaft und auf die sozialistische Heimat in der DDR beeinflusste, sollte es bis 1990 dauern, bis auch auf sächsischem Gebiet ein neuer Verein „Die Naturfreunde“ (wieder-)begründet werden konnte.

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