Fundstück aus dem ISGV – im Oktober 2022

Bergsteigen in Sachsen

von Christoph Sauer

Hahn, Walter: Kaminkletterei im Bloßstock, Nr. 2871, Postkarte, schwarzweiß, 80x130mm, 1925, BSNR 047629
Hahn, Walter: Kaminkletterei
im Bloßstock, Nr. 2871,
Postkarte, schwarzweiß,
80x130mm, 1925,
BSNR 047629

Mutig, sportlich, geschickt, gefährlich, waghalsig und ausdauernd sind vielleicht jene Eigenschaften, welche einem über den Kletterer auf der Bildpostkarte (Abb. 1) einfallen könnten. Sie zeigt den 1925 fotografierten Paul Illmer (1900–1995), während der Ersteigung des Felsens über den Alten Nordweg (V). Nicht nur die Überwindung des Kamins am Bloßstock – der sogenannte „Königsgipfel der Affensteine“ – stellt an sich bereits eine Schwierigkeit dar, sondern wirkt durch den Vorstieg Illmers noch waghalsiger. Beeindruckend ist auch der Blickwinkel des Fotografen, der sich im Moment des Auslösens auf der gleichen Höhe wie der Kletterer befindet. Die unglaubliche Körperspannung Illmers, der sich durch je eine Hand und einen Fuß an den beiden parallelen Felswänden hält, wird durch diese Perspektive ersichtlicher und für die betrachtende Person fassbarer, wenn nicht sogar spürbar.

Es ist das „Sächsische Bergsteigen“, das als „Wiege des Freikletterns“ bezeichnet wird. Seit Anfang des 20. Jahrhunderts ist daraus eine eigene Kletterphilosophie entstanden: Demnach wird auf künstliche Hilfsmittel, wie z. B. Leitern, Spitzhacke, das Schlagen von Griffen oder Tritten, das Benutzen von Stiften und Ringhaken (außer zur Sicherung), Holzsprossen oder gar den später aufkommenden Chalk (Magnesia) verzichtet. Es wird allein auf die Eigenverantwortung zur Überwindung von Schwierigkeiten durch Klettern an natürliche Haltepunkte gesetzt. Lediglich Kletterschuhe (Abb. 2), die eine bessere Haftbarkeit am Gestein ermöglichen und ein Sicherungsseil – zu Illmers Zeit eher ein Hanfseil - wurden bzw. werden akzeptiert. Diese Sächsischen Kletterregeln, die neben den Kletter- und Sicherungstechniken auch den Schutz der Felsoberfläche und damit die Bewahrung der Klettermöglichkeiten für nachfolgende Generationen fokussierten, wurden 1913 von Rudolf Fehrmann (1886–1948) ("Der Bergsteiger in der Sächsischen Schweiz") niedergeschrieben, der heute idealistisch als „Übervater sächsischer Ethik und Moral“ glorifiziert wird. Fehrmann schreibt: „Es kann hier, sobald künstliche Hilfsmittel benützt [sic!] werden, von einem Sieg[e] über den Fels[en] ebenso wenig gesprochen werden, als wenn zum Beispiel ein Wettläufer dem andern ein Bein stellt.“ Er selbst definierte jene künstlichen Hilfsmittel als „vom Menschen beim Ersteigungsangriff auf den Fels eingeführte Hilfsgröße, zu dem Zwecke benützt [sic!], die Überwindung der Schwerkraft zu ermöglichen oder zu erleichtern.“ Heute wird diese tradierte Kletterkultur, die sich über Jahrzehnte vorsichtig weiterentwickelte, in Vereinen, Familien und Freundeskreisen weitergegeben. Erst im Juni 2022 schlug das Sächsische Staatsministerium für Kultur und Tourismus auf Empfehlung des sächsischen Kultursenats das „Sächsische Bergsteigen“ zur Aufnahme in das Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes vor. „Hier wird eine eigene Kletterkultur gelebt, die das Gemeinschaftserlebnis betont und höchste sportliche Ansprüche mit der Bewahrung einer einzigartigen Naturlandschaft verbindet“, so die Begründung der sächsischen Kulturministerin Barbara Klepsch (CDU). In der Kletterszene ist das historische Sächsische Bergsteigen umstritten, da Toleranz auf beiden Seiten fehlt und es zu Konflikten über die althergebrachten Regeln kommt. „Aus dem selben Grund ist übrigens die Frage nach der Zulässigkeit künstlicher Hilfsmittel auch nur da zu stellen, wo der Erstbesteiger Anspruch auf Würdigung seiner Tat erhebt; im [Ü]brigen muss es jedem unbenommen bleiben, wie ihm Lust und Laune eingeben, solange es nicht die Allgemeinheit – z. B. durch dauernde Verunstaltung des Felsen – schädigt“, ebenfalls Fehrmann im Jahrbuch des SBB von 1926/27.

In diesem Fundstück des Monats soll jedoch der Fotograf der Kletter-Postkarte[n] sowie deren Provenienz und spätere Verwendung betrachtet werden. Hinweise auf den Urheber befinden sich im rechten unteren Bildrand der Illmer-Postkarte. Es ist das wohl berühmteste Verlagslogo für Bildpostkarten in Dresden: „W. Hahn - [Postkartennummer] – Dresden“. Walter Hahn (1989–1969) war Berufsfotograf, Inhaber eines Postkartenverlages und selbst Kletterer. Bei seinen unzähligen Wanderungen und Klettertouren, vor allem in der Sächsischen Schweiz, dokumentierte er mit Hilfe seiner Kamera Landschaften, Städte und auch Menschen. Durch den von ihm ausgeübten Klettersport erschlossen sich neue Möglichkeiten durch verschiedene Kamerastandpunkte bisher unbekannte Blickwinkel einzufangen. Dies bedeutete aber gleichzeitig, dass stets die schwere Plattenkamera samt Glasplatten und Stativ transportiert werden musste. Im Laufe von drei Jahrzehnten entstanden ca. 2.000 Aufnahmen aus der Sächsischen Schweiz. Ebenso berühmt sind seine Luftbilder, welche neue Perspektiven und Strukturen von Landschaften zum Vorschein brachten. Die Deutsche Fotothek beherbergt seinen Nachlass mit insgesamt etwa 15.000 Glasnegativen sowie verschiedene Korrespondenzen. Sein fotografisches Werk ist digitalisiert in der Deutschen Fotothek zu finden und zusätzlich ausschnittsweise in zwei Bildbänden über die Sächsische Schweiz (Die Sächsische Schweiz: Fotografien 1911-1938) und mit Luftbildaufnahmen von Dresden (Über den Dächern von Dresden: Luftbildfotografien 1919-1943) publiziert worden.

Das Bildarchiv des ISGV kann ebenso eine kleine Sammlung der Bildpostkarten von Hahn vorweisen, worin allein 69 Postkarten mit Motiven aus der Sächsischen Schweiz auftreten. Erkennbar sind neben den Fotografien von Landschaften mit Tälern, Städten und Dörfern, Sehenswürdigkeiten u. a. auch Postkarten mit Kletterer. So fotografierte Hahn z. B. die Barbarine mit der Seilschaft Ullrich, beim Austritt zur Kante (Abb. 4), wobei sich die ‚typischen Hahnwolken‘ in die Bildkomposition zur sich dahinter befindenden Landschaft passend einfügen und den Felsen samt Kletterer bekrönen. Hahn fokussierte den Kletterer in einer leicht herunterblickenden Perspektive. Dem Felsen passt er sich in der Fotografie durch das Hochformat an, wobei die Bild- und Felskante parallel zur Bewegungsrichtung des Kletterers wirkt. Eindrucksvoll ist auch das Motiv einer Postkarte von 1925 mit der Seilschaft Willy Häntzschel, Paul Illmer und einer dritten, jedoch unbekannten Person (Abb. 5). Sporadisch durch Hanfseile und mit Hilfe von an der Felswand befestigten Sicherungsringen gesichert, wobei erstere lediglich schlaff um die Hüften der Kletterer geknotet wurden, fotografierte er die Sportkletterer am Felsen. Hahn – erneut auf derselben Höhe wie die Seilschaft – fängt deren Körperspannung und den Moment der Überlegung über den nächsten Kletterschritt ein.

Zum einen bot Hahn seine Postkarten interessierten Personen auch zum Kauf an. Zum anderen publizierte er sie selbst in eigens veröffentlichten Bildbänden, wie z. B. in dem 1925 veröffentlichten Bildband „Dresden und Umgebung. 48 Aufnahmen nach der Natur“, worin eine Auswahl seiner Motive gesammelt veröffentlicht wurden. Auch in anderen, verschiedenen zeitgenössischen Publikationen treten Hahns Motive auf. So z. B. als Vorbild für sportliche Betätigung in der Natur in einer Werbebroschüre für Bad Schandau, die vermutlich 1936 Touristen zur Verfügung gestellt wurde (Abb. 6) oder in Beiträgen zum Sächsischen Bergsteigen, wie z. B. in den Mitteilungen des Landesvereins Sächsischer Heimatschutz, zusammengestellt von Fehrmann. Doch auch die Sammlung der Bildstelle der NS-Organisation „Heimatwerk Sachsen“ (1936–1945), welche sich als umfangreiche Sammlung als deren Nachlass im Bildarchiv des ISGV befindet, erweiterte ihren eigenen Bestand mit Hahns Postkarten. Insgesamt tauchen 90 Postkarten von ihm in der Bildsammlung des Heimatwerkes Sachsen auf. Vorwiegend spiegeln sie die gängige Bildprogrammatik Hahns wider und lassen sich zu Themen wie z. B. Landschaften, Stadtansichten und eben jenen Fotografien von Sportkletterer zuordnen. Gleichzeitig verwendete man sie für Propagandazwecke und sind in den eigenen Bildbandpublikationen des Heimatwerkes Sachsen wiederzufinden. Hahn selbst trat 1934 in die NSDAP ein, „was er später als für die weitere Berufsausübung, insbesondere für die Genehmigung, Luftbildaufnahmen anzufertigen, als unumgänglich bezeichnete.“. In dem 1943 von Heinz Graefe bearbeiteten und vom Heimatwerk Sachsen publizierten Bildband „Schönes Sachsenland“ wurde beispielsweise Hahns Postkartenmotiv Nr. 2427 verwendet (Abb. 7,  Abb. 8). Es zeigt einen im Jahr 1919 fotografierten Kletterer während des Übertritts des Alten Weges [III] zum größten Felsen des Dreifingerturms der Schrammsteine. Das Bild reiht sich passend neben den anderen Fotografien von Wanderern und Kletterern in die positivistische nationalsozialistische Bildprogrammatik innerhalb des Bildbandes ein. Mit der Verwendung des Motivs propagierte das Heimatwerk Sachsen die beeindruckende sportliche Leistung eines gesund zu scheinenden, männlichen und vor allem sächsischen Kletterers. Zudem steht die verwendete Fotografie als Sinnbild für den sächsischen Kletter- und Wandersport sowie für die landschaftliche Schönheit der Natur und Region um Bad Schandau. Denn die „Schönheit“ Sachsens vorzuzeigen, wie bereits der Titel des Bandes verrät, war gleichzeitig das Hauptziel dieser Bildpublikation. Die Betrachtenden sollten Stolz auf ihre sächsische Heimat sein und nicht-sächsische Personen sollten beeindruckt werden.

Im Bildband treten noch drei weitere Fotografien von Hahn auf, die mit ihren Motiven die Stadtansicht Dresdens oder die Sächsische Schweiz abbilden. Namentlich wird der Fotograf ebenso auf Seite vier in den Bildquellenangaben genannt. Ob die Bildstelle die Postkarten direkt von Hahn ankaufte oder er zumindest die vom Reichsluftfahrtministerium vorher genehmigten Luftbildaufnahmen als Belegexemplare einreichen musste, ist im Zusammenhang der Bildstelle des Heimatwerkes Sachsen noch zu überprüfen. Das Fundstück zeigt jedoch die Vielfältigkeit des Kontextes einer Bildpostkarte und welche Fragen sich daraus ergeben können: Warum und wie sie entstand, was sie vermittelt, welche Rolle der Fotograf spielte, wofür sie benutzt wurde und aus welcher Sammlung sie stammt?

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