Fundstück aus dem ISGV – im November 2024

Mutmaßungen über einen Briefumschlag

von Dieter Herz

Unser Fundstück ist ein hellbrauner, aus grobfaserigem Papier bestehender Briefumschlag von 16 cm Breite und 23 cm Länge. Mit ihm konnten Postsachen des Formats DIN-A 5 verschickt werden – im vorliegenden Fall als „Drucksache“, was durch einen entsprechenden Aufdruck signalisiert und durch den Befund unterstrichen wird, dass der Umschlag nie zugeklebt war. Das Fundstück fiel dem Autor dieser Zeilen in die Hände, als er bei der Erschließung der Sammlungen und Nachlässe des ISGV einen Karton mit ziemlich diversem Inhalt in Augenschein nahm. Durch allerlei mit Kuli vorgenommene Notizen und Skizzen ist das Stück mehr als ein ausgedienter Briefumschlag, der schleunigst der Kassation anheimfallen sollte.

Briefumschlag aus dem Bestand „Archiv des Instituts für Deutsche Volkskunde“, recto (ISGV, AIfV)

Rechts unten steht die Adresse: „Institut f. deutsche Volkskunde, Dresden A 1, Augustusstr.“ Empfänger war also ein Vorläufer-Institut des ISGV, das seit 1954 als „Forschungsstelle Dresden“ des Instituts für deutsche Volkskunde an der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin firmierte und im Ständehaus an der Brühlschen Terrasse saß. Die Anschrift ist durch das Kürzel „8680 A“ ergänzt, wohl die Kundennummer, unter der das Institut beim Absender lief. Dieser ist unten links ausgewiesen als „Zentral-Antiquariat der Deutschen Demokratischen Republik, Leipzig C 1, Talstraße 29, Schließfach 597“. Darunter steht winzig klein „III-18-881 Lp 5334 62“; es dürfte sich um die Produktnummer des Umschlags handeln.

Am linken Blattrand lassen sich blass-rote Stempel-Aufdrucke der Deutschen Post mehr erahnen als erkennen. Datum und Portobetrag sind nicht mehr zu entziffern. Da der Umschlag keinerlei Ausbeulungen aufweist, soll hier davon ausgegangen werden, dass der beförderte Inhalt höchstens 250 Gramm gewogen hat (eventuell ein Spezial-Katalog des Antiquariats?), wofür in den frühen 1960er Jahren 25 Pfennig Porto fällig waren. Diese zeitliche Einordnung fußt auf der Tatsache, dass weder die Adresse noch der Absender Postleitzahlen aufweist – solche wurden in der DDR erst per 1. Januar 1965 eingeführt. Eine handschriftliche Notiz rechts lässt eine genauere Datierung wagen und 1963 als Versandjahr ansetzen: Denn unter der Zeile „1962 Rücklauf“ und „Zs“ zieht sich bis auf den Adress-Block hinunter die Zahlenreihe „28, 30, 36, 47, 82, 100, 138, 10, 18, 21, 41, 19“. Aller Wahrscheinlichkeit nach haben wir es mit der 1963 vorgenommenen Jahresbilanz 1962 einer Monats-Zeitschrift zu tun (mit dem höchsten Rücklauf im Juli). Keinen zeitlichen, sondern regionalen Bezug hat eine Notiz links oben: „W. Gregory, Meißen, Steinberg 6“ – es könnte sich um die Adresse einer potentiellen Auskunfts-Person handeln.

Sowohl die flüchtig hingeschriebene Adresse als auch die Zeitschriften-Statistik signalisieren, dass der Umschlag einst als Notizfläche für Instituts-relevante Informationen diente. Während die Zeitschriften-Auswertung wohl gemächlich an einem Schreibtisch erfolgte (vgl. Fundstück Mai 2020: Arbeit – Schreibtisch – Büro. Wissenschaftsgeschichte in Bildern), könnte die Meißen-Adresse bei einem Telefonat oder in einer Dienstbesprechung notiert worden sein – zwei klassische Situationen, in denen der Mensch dazu neigt, nicht nur Gehörtes geflissentlich zu notieren, sondern seine Unterlagen nebenher auch mit allerlei Gekritzel zu versehen. Der vorliegende Briefumschlag ist beeindruckender Beleg eines solchen Tuns. Neben den erwähnten Notationen weist er sechs mehr oder weniger elaborierte Grafiken und Skizzen unterschiedlicher Größe und Aussagewucht auf.

Oben links, unter dem Meißner Steinberg, segelt ein kleines spitzwinkliges Dreieck in Richtung Poststempel. Im Absenderfeld unten ist das „riat“ von „Antiquariat“ durch eine stilisierte Aktentasche eingekastelt. Mehr Phantasie brach sich beim Adressfeld Bahn: Der gestrichelten Linie unter „Dresden“ wurde eine Rauten-Kette untergehängt. „Dresden“ selbst und der Zusatz „A 1“ sind zu einem liegenden Wickelkind gestaltet: Das in ein Rautenmuster gehüllte „Dresden“ stellt den Körper dar, der Zusatz den Kopf. Das „A“ wurde zum Mund, die „1“ ist das linke und ein Strich das rechte Auge. Auch Ohren fehlen nicht. Ein Ärmchen ragt empor und umschließt das Schluss-t vom Institut. Von rechts nähert sich dem eingewickelten Dresden ein in unregelmäßige Felder unterteiltes Dreieck, dessen obere Kathete in Richtung Umschlagrand verlängert ist. Das an die Hypotenuse angedockte, unten geschlossene X könnte als eine Art Antrieb gelesen werden – das Flugobjekt hält aufs Institut zu. Rechts unten sind acht konzentrische Kreise platziert, die durch zwei an Uhrzeiger erinnernde Balken durchkreuzt werden. Der Stundenzeiger steht auf neun, der Minutenzeiger zeigt 16.30 h. An seinem herausragenden Ende ist ein Sensenblatt angesetzt.

Es würde den Rahmen dieser Miszelle sprengen und die Kompetenz ihres Autors übersteigen, sollte jede dieser Zeichnungen auf Bedeutung und möglichen Aussagegehalt abgeklopft werden. Immerhin sei eingeflochten, dass nach Auskunft handelsüblicher Ratgeber zur Entschlüsselung von Kritzeleien Kringel, Kreise und Spiralen für in sich gekehrte Zeitgenossen stehen; wer Pfeile oder Messer (und, wie evtl. hinzugefügt werden darf: Sensen) male, sei aggressiv und selbstbezogen – womit immerhin die Zeichnung unten rechts etwas dechiffriert wäre. Über eingewickelte Städtenamen schweigen die Ratgeber.

Wenden wir uns nunmehr der zentralen Zeichnung zu, dem Brustbild einer Figur, die unter dem eingerahmten Aufdruck „DRUCKSACHE“ thront, an dem rechts und links zwei Bänder herunter flattern. Überwölbt wird die Figur von drei barock anmutenden Schnörkeln, die einen längsgeteilten Kreis umspielen, dessen Hälften unterschiedlich ausgemalt sind. An dem unteren Halbkreis baumeln Striche (ein Bart?), in die das mittlere von fünf Scharnieren einer Gliederkette ragt. Die zickzack verlaufende Kette mündet mittig in eine schmale Krawatte, die zu einer den Pullover-Ausschnitt begrenzenden Borte führt. Das Ende der Figur bilden ihre zusammengelegten, abwärts gerichteten Hände.

Wo Tiere oder Figuren gekritzelt werden, sagen die Ratgeber, sei der Humor zu Hause, dort gehe man kameradschaftlich miteinander um. Es bestünde also Anlass, den Urheber / die Urheberin der Zeichnung in die Sparte der humorvollen Teamplayer einzusortieren und das Institut für solche Leute quasi postum zu beglückwünschen. Jedoch – wer genauer hinschaut, sieht, dass unsere Figur nicht nur kein Gesicht, sondern nicht einmal einen Kopf hat. Es ragt nur ein Halsstumpf aus der Schulter. Wir haben es – horribile dictu! – mit einer geköpften Figur zu tun.

Und noch etwas fällt beim zweiten Blick ins Auge: Ihre Hände sind nicht irgendwie zusammengelegt, sondern Daumen und Zeigefinger bilden eine Raute – eine Handhaltung, die als „Merkel-Raute“ in die Geschichtsbücher eingegangen ist. Zur Entstehungszeit der Dresdner Raute aber war die spätere Bundeskanzlerin noch als ABC-Schützin Angela Kastner an der Polytechnischen Oberschule in Templin zugange. Weshalb die These gewagt sei, dass die Merkel-Raute im Dresdner Volkskundeinstitut erfunden wurde und später – auf noch zu klärenden Wegen – von der Kanzlerin adaptiert wurde.

An bzw. unter Merkel wurde besagte Handhaltung gern als „Raute der Macht“ gewertet, eine Zuschreibung, die durchaus auch für die Dresdner Urform in Betracht kommen könnte. Schließlich dominiert die Figur das Blatt dermaßen, dass der Verdacht nicht abwegig erscheint, mit ihr könnte eine damalige Institutsleitung gemeint gewesen sein, die während einer Dienstbesprechung aus sicherer Entfernung skizziert wurde und die man gern einen Kopf kürzer gesehen hätte. Womit sich Bezüge eröffnen zu den bürofolkloristischen Zeugnissen, wie sie Uli Kutter in seiner Studie „Ich kündige!“ in der Zeitschrift für Volkskunde 1981 (S. 243-261) beschrieben hat.

Indes: Ebenso, wie die Gestaltung des Umschlags nicht auf einen Sitz erfolgt sein muss, sondern auch ein iterativer Schaffensprozess mit mehreren „Arbeitssitzungen“ denkbar ist, so lassen sich auch nicht alle Kritzeleien über einen Interpretations-Kamm scheren und unter Frustabbau verbuchen. Immerhin findet sich rechts oberhalb der geköpften Figur ein kleiner Blumenstrauß. Und wer genau hinschaut, erkennt, dass aus den Kreisen unten rechts keine funktionstüchtige Sense ragt, weil nämlich das Sensenblatt falsch herum eingestielt ist. (Da am Institut traditionell der Sachkulturforschung gefrönt wurde, kann das kein Zufall sein.) Ein weiteres Positiv-Signal liefert schließlich die einzige Notiz auf der Rückseite des Umschlags: „Do 29. Mai Betriebsausflug“. Das wurde eben nicht vorne beim geköpften Vorgesetzten notiert und ist auch nicht irgendwie abschätzig um- oder bekritzelt worden, sondern schwungvoll unterstrichen.

Briefumschlag aus dem Bestand „Archiv des Instituts für Deutsche Volkskunde“, recto (ISGV, AIfV)

Fraglos handelt es sich beim vorliegenden Objekt um ein Ego-Zeugnis. Die Frage ist bloß, wessen bzw. welches Ego dahintersteckt. Es ist davon auszugehen, dass der Umschlag eigentlich nicht für die Nachwelt bestimmt war. Man hat versäumt, ihn zu entsorgen. Aber das Haus verliert nichts, wie der Volksmund weiß. Und es birgt manches Geheimnis.

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