Fundstück aus dem ISGV – im November 2023

Akademische Folklore - Kettenbriefe als deutsch-deutsche Spielerei in Zeiten des Kalten Krieges

von Dieter Herz

Der „Nachlass Siegfried Kube“ gehört zu den umfangreichsten Beständen, die im ISGV verwahrt werden. Der 1915 in Leipzig geborene und 1990 in Meißen verstorbene Wissenschaftler war Mitarbeiter am Institut für deutsche Volkskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, Forschungsstelle Dresden, eine im Ständehaus angesiedelte Vorgänger-Einrichtung des ISGV. Kube forschte zum Bergbau, zu Trachten, zu Bräuchen und zur Volksdichtung. Zu seinem im Kalliope Verbundkatalog auf „ca. 25 lfd. Meter“ taxierten Nachlass gehören zahlreiche Karteikästen, penibel sortiert und eng befüllt mit Literatur-Exzerpten, Fotos, Korrespondenzen und allerlei sonstigen, auf Karteikartengröße gefalteten Schriftstücken. Im Kasten mit der Aufschrift „1954 – 1964“ findet sich unter dem Schlagwort „Akademie allgemein“ hinter dem Kartenreiter „Rostock“ das abgebildete Fundstück.

In die Kettenbrief-Aktion wurde 1962 auch ein Dresdner Volkskundler
einbezogen. (ISGV, Nachlass Sigfried Kube)

Das einseitig mit Schreibmaschine auf Englisch beschriftete DIN-A 4-Blatt wurde am 6. März 1962 in Rostock von Dr. Ulrich Bentzien ausgefertigt. Es ist handschriftlich mit „Lieber Herr Dr. Kube!“ über- und mit „U. Bentzien“ unterschrieben. Das Blatt – ein leicht vergilbter Durchschlag – hat zwei Hälften, die offensichtlich aneinandergesetzt wurden. Den oberen Teil nimmt ein Fließtext ein, darunter sind vier Namen mit Anschriften aufgeführt. Beim Namen Nr. 4 handelt es sich um den Absender Dr. Ulrich Bentzien.

Wir haben es mit einem Kettenbrief zu tun, einem Genre, dessen Anfänge in magisch-religiös geprägten Schriften wie den sogenannten „Himmelsbriefen“ liegen. Dies waren angeblich durch Engel überbrachte Botschaften, die von Menschenhand abzuschreiben und zügig an mehrere Personen weiterzureichen waren, damit die in ihnen enthaltenen Schutz- und Segensformeln ihre Wirkung entfalteten. Selbst das ansonsten nicht zu übermäßig strengen Urteilen neigende „Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens“ hält dafür, diese Art von Kettenbriefen dürfe „mit vollem Recht als Unfug bezeichnet werden“.

Ohne Zutun eines himmlischen Boten kamen dagegen Glückskettenbriefe aus, die den Beteiligten Gesundheit und Reichtum verhießen, sofern sie die Regeln befolgten. Das Regel-Schema ist bei allen Kettenbriefen gleich: In einem Text wird mitgeteilt, um was es geht und weshalb das Schreiben weiterverbreitet werden soll. Dasselbe ist an die oberste der folgenden Adressen zu schicken, dieser Name von der Liste zu streichen und dafür der eigene am Ende einzusetzen. Das Schriftstück ist sodann rasch an eine Anzahl weiterer Adressaten zu senden, die ebenso zu verfahren haben, auf dass die Kette fortgesetzt werde.

Mit besonderen Erwartungen sind sogenannte Geldkettenbriefe verbunden: Hier ist dem Brief an Adresse eins ein Geldbetrag beizulegen. Dafür wird dem Absender ein Geldsegen verheißen, der eintreffe, sobald dessen Adresse an Position eins gerückt sein würde. 1935 kursierte in Denver (US-Bundesstaat Colorado) ein Kettenbrief mit der Aufforderung, der Sendung an den Erstgenannten zehn Cent beizulegen. Wer das getreulich befolge, so das Versprechen, sollte mit den zu erwartenden 15.625 Briefen in Summe 1562,50 Dollar erhalten. Eine Hoffnung, die sich für kaum einen Mitspieler erfüllt haben dürfte. Jedenfalls für keinen, der erst spät zu der Aktion dazu stieß. Denn in der Praxis ist es so, dass im Verlauf des Spiels immer mehr Angeschriebene nicht mitmachen, also die Kette unterbrechen. Seinerzeit in Denver soll die Beteiligung aber ausgereicht haben, um die Post kollabieren zu lassen.

Im Internet-Zeitalter tun sich für Spielernaturen natürlich schier unbegrenzte Möglichkeiten auf. In den sogenannten sozialen Medien wird in Kettenbrief-Tradition Bauernfängerei mit modernen Mitteln betrieben. Etwa in Form angeblicher Gewinnspiele, bei denen zuvörderst die Adressenhändler profitieren, indem sie Daten abgreifen. Auch moderne Sagen (urban legends) werden nach Kettenbrief-Art im Netz verbreitet: Ein Klassiker sind die „Bonsaikatzen“, mit denen angeblich ein Züchter handelt, der die Tiere laut eigener Auskunft in kleinen Glasbehältern aufzieht.

Mitunter wird dem Adressaten eines Kettenbriefs mit schlimmen Folgen bis hin zum Tod gedroht für den Fall, dass er die Brief-Kette unterbricht. Ein solches Drohpotential enthält unser Beispiel nicht. Hier wird nur appelliert, kein Spielverderber zu sein, die Aktion laufe immerhin schon seit 1956. Es sind auch keine Bonsaikatzen im Spiel und es ist kein Geld beizulegen. Dem Brief an die erste Adresse soll vielmehr die jüngste Arbeit des Absenders aus den Bereichen „ethnology or linguistics, archaeology, cultural prehistory“ beigefügt werden. Sofern dies innerhalb von drei Tagen erfolge, so die Verheißung, würden nach etwa 26 Tagen beim Absender 272 Arbeiten „from some amazing people“ eingegangen sein.

Von Kollege zu Kollege: Rudolf Weinhold, der ebenfalls an der
Forschungsstelle Dresden arbeitete, widmete Siegfried Kube
am 14.11.1963 den Sonderdruck eines Aufsatzes zum Weinbau.
(ISGV, Archiv Institut für Volkskunde)

Als Beigabe erbeten sind hier also Sonderdrucke, wie sie vor allem in den Geisteswissenschaften gängig waren: Separatdrucke eines Zeitschriftenartikels oder eines Aufsatzes, den der Verlag der Autorin oder dem Autor zur Verfügung stellte. Das mit einem Titelblatt (und mitunter einem Papp-Umschlag) versehene Heft diente als Belegexemplar für den Eigenbedarf sowie als Arbeitsnachweis gegenüber Fachkollegen. Das „Separatum“ wurde bei Tagungen übergeben oder auf dem Postweg zugestellt – gern mit Widmung oder zumindest dem Stempel „Vom Verfasser überreicht!“ versehen. Derartige Gaben – die im elektronischen Zeitalter aus der Mode gekommen sind – gehören zur akademischen Folklore.

Mit Folklore kannten sich auch alle Akteure aus, die in die Kettenbrief-Aktion involviert waren, aus der unsere Fundsache stammt: Neben Siegfried Kube aus Dresden waren dies zwei in Rostock tätige Volkskundler sowie eine Kollegin und ein Kollege aus Marburg. Sie alle beackerten verwandte Forschungsfelder und kannten sich vermutlich. Absender des Schreibens an Dr. Siegfried Kube und Nummer 4 der Namensliste ist Dr. Ulrich Bentzien, Jahrgang 1934, der sich mit der Volkskunde Mecklenburgs und Vorpommerns befasste, speziell mit Sprache, Sagen und Sprichwörtern. Seit 1957 war er an der „Wossidlo-Forschungsstelle“ in Rostock tätig, einer Außenstelle des Instituts für Deutsche Volkskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin (DAW). An Position 1 im unteren Teil des Briefes steht Dr. Ingeborg Weber-Kellermann aus Marburg. (Das hier benutzte Kürzel „DBR“ stand seinerzeit für „Deutsche Bundesrepublik“.) Die 1918 Geborene hatte bei Adolf Spamer studiert, war seit 1946 am Institut für deutsche Volkskunde der DAW tätig gewesen und 1960 nach Marburg gewechselt, wo sie 1968 Professorin für Europäische Ethnologie werden sollte. Sie befasste sich mit Festen und Bräuchen sowie mit den Themen Kindheit und Familie. Auf Position 2 gesetzt war Dr. Joachim Schwebe, Jahrgang 1925. Er arbeitete ebenfalls in Marburg, betreute das „Zentralarchiv der deutschen Volkserzählung“ und publizierte auch zu Themen des Volksglaubens. Position 3 schließlich nahm Dr. Siegfried Neumann ein. Geboren 1934, war er seit 1962 Assistent an der „Wossidlo-Forschungsstelle“. Er forschte zu mecklenburgischen Volksmärchen, Sprichwörtern und Bräuchen und ist, soweit bekannt, der Einzige in dem Kettenbrief Genannte, der heute noch lebt.

Inwieweit die Aufgeführten sich damals wie erbeten an der Aktion beteiligten oder aber als Kettenbrecher tätig wurden, ist wohl nicht mehr herauszufinden. Niemand weiß auch, bei wem wie viele von den in Aussicht gestellten 272 Sonderdrucken eingegangen sind. Ob sich in dem „ca. 25 lfd. Meter“-Nachlass von Siegfried Kube einschlägige Belege befinden, lässt sich momentan nicht sagen, da der Bestand noch nicht tiefenerschlossen ist. Die Fundsache legt jedenfalls Zeugnis davon ab, dass in der alten Volkskunde die Idee vom „Homo ludens“ nicht nur theoretisch erwogen, sondern gern auch in der Praxis erprobt wurde. Sie ist Überbleibsel einer grenzüberschreitenden deutsch-deutschen Spielerei in Zeiten des Kalten Krieges und des Mauerbaus.

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