Fundstück aus dem ISGV – im Mai 2024
Kinder an die Macht! Die Kinderrepublik in Kötzschenbroda im Jahr 1929
von Henrik Schwanitz
Am 14. Juli […] entfaltete sich auf einer Höhe oberhalb der Stadt kribbelndes, lachendes, munteres Leben. Die Kötzschenbrodaer rieben sich die Augen und staunten. Schier über Nacht waren Zelte aus der Erde gewachsen, ein ganzer Zeltstaat, eine kleine Welt für sich. Selbstherrlich breiteten sie sich aus, die grauen Kegel, wie spitze Mützen ragten sie über die Dächer der Stadt. Staunen, Kopfschütteln, Fragen: „Was’n da los? […]“.
Der herannahende Sommer lässt Vorfreude aufkommen: Sonnenschein, Badespaß, Ferien und Urlaubszeit. Gerade die Sommerferien sind für Kinder und Jugendliche etwas außeralltägliches, ein Zeitraum, der mit Hoffnungen und Erwartungen verbunden ist. Von einem besonderen Ferienereignis, das im Juli/August 1929 im heutigen Radebeuler Ortsteil Kötzschenbroda stattfand, kündigt nicht nur das oben angeführte Zitat aus der „Dresdner Volkszeitung“ vom 15. Juli 1929, sondern auch eine Postkarte, die sich in den Sammlungen des ISGV befindet und mit „Kinderrepublik Sachsen“ betitelt ist.
Die Postkarte stammt aus einem Bestand zum sozialistischen Touristenverein „Die Naturfreunde“ in Sachsen, der gegenwärtig im ISGV erschlossen wird. Über das Ehepaar Ingeborg und Manfred Schicht, die sich vor allem um die Ortsgeschichte der Gemeinde Bannewitz und ihrer Ortsteile verdient gemacht haben, wurde ein Konvolut aus Nachlassmaterialien von Richard Zips an das ISGV übergeben. Hierzu gehört auch jene Karte, die im Oktober 1929 von einem Freitaler Freund an Zips gesendet wurde, um einen sonntäglichen Besuch anzukündigen. Zips, Jahrgang 1908, war Mitglied der Ortsgruppe Bannewitz des Touristenvereins „Die Naturfreunde“. Er war gelernter Bürstenmacher, SPD-Parteimitglied und lebte in Hänichen südlich von Dresden.
Was sich hinter dem Begriff der ‚Kinderrepublik‘ verbirgt, scheint damals nicht nur für die Kötzschenbrodaer Bürger etwas fraglich gewesen zu sein, sondern ist auch heute erklärungsbedürftig. Näheres erfährt man aus dem Bericht der „Dresdner Volkszeitung“ vom 15. Juli 1929: Mittags um zwei Uhr tauchen am Waldrand rote Fahnen auf, bauschen sich im Wind, flammen in der Sonne und nehmen ihren Kurs geradewegs auf das sonntäglich ruhige Städtchen zu […]. Sie kommen näher und nun leuchtet von großen roten Transparenten des Rätsels Lösung: „Kinderrepublik Sachsen“ und „Wir sind das Bauvolk der kommenden Welt“. (Dresdner Volkszeitung, 15.07.1929, S. 8)
Der Text macht deutlich, dass die Kinderrepublik in Kötzschenbroda mit der Arbeiterbewegung bzw. Arbeiterjugendbewegung zusammenhing. Allerdings war sie kein Phänomen, das auf Sachsen allein beschränkt war. Kinderrepubliken waren auf das engste mit der 1923 im Umfeld der SPD gegründeten sozialistischen Erziehungsorganisation der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde verbunden und wesentlich durch deren Vorsitzenden, den Berliner Pädagogen Kurt Löwenstein (1885-1935), geprägt. In ihnen spiegeln sich reformpädagogische Ansätze wider, die vor allem auf die sozialdemokratische Arbeiterjugend abzielten. Für die Kinderfreunde war die Kinderrepublik ein sozialpädagogischer Versuch: Das Erziehungsprojekt sollte als Baustein für den Aufbau einer künftigen sozialistischen Gesellschaft und einer sozialen Demokratie dienen.
Nach einer ersten Kinderrepublik 1927 auf Gut Seekamp an der Kieler Förder fanden in den folgenden Sommerferien in ganz Deutschland große Kinderrepubliken statt, Zeltlager mit über 2.000 Kindern und Jugendlichen. 1929 wurde erstmals in Sachsen eine Kinderrepublik ausgerufen. Das Ferienlager fand vom 13. Juli bis zum 12. August oberhalb der Kötzschenbrodaer Weinberge zwischen der sogenannten Friedensburg und dem Weinberg „Paradies“ statt. Knapp 800 Kinder und Jugendliche aus ganz Sachsen, die jüngsten unter ihnen erst neun Jahre alt, nahmen teil. Die rote Kinderrepublik Sachsen wurde am 14. Juli feierlich durch den SPD-Landtagsabgeordneten und späteren Landtagspräsidenten Kurt Weckel (1877-1957) ausgerufen und im Vorfeld durch den Landesausschuss Sachsen der Reichsarbeitsgemeinschaft der Kinderfreunde sowie die Sozialistische Arbeiter-Jugend „Rote Falken“ organisiert.
Neben gemeinsamem Spiel, Sport, Baderlebnissen und Wanderungen stand bei der Kinderrepublik in Kötzschenbroda vor allem die Erziehung zu mündigen Menschen im Mittelpunkt. Die Kinder und Jugendlichen sollten sich und ihr Zeltlager selbstverwalten, um auf spielerische Weise das demokratische Miteinander sowie parlamentarische Strukturen kennenzulernen und einzuüben. Der oberste Grundsatz Alle Staatsgewalt geht vom Kinde aus schloss an die Verfassung der Weimarer Republik an. Dementsprechend traten Erwachsene hauptsächlich im unterstützenden Bereich auf, etwa als Köchinnen, die für die fünf Mahlzeiten am Tag zuständig waren. Lediglich der Lagerpräsident und Vorsteher der Republik wurde durch ein Mitglied des Landesausschusses der Kinderfreunde gestellt. Bezüglich der internen Organisation der Kinderrepublik in Kötzschenbroda berichtete die „Dresdner Volkszeitung“:
Jedes Dorf hat etwa zehn Zelte, und aus sieben Dörfern besteht die Republik. Jedes Dorf wählt einen Bürgermeister und drei Delegierte, die das Parlament bilden helfen, dem sich jeder Staatsbürger freiwillig unterordnet. Keiner befiehlt, alle gehorchen den Gesetzen einer Gemeinschaft, die sich selbst verwaltet. (Dresdner Volkszeitung, 15.07.1929, S. 8) Die sozialdemokratisch ausgerichtete „Dresdner Volkszeitung“ bezeichnete die Errichtung der Kinderrepubliken daher als symbolische Grundsteinlegung der ersten Sozialistenstaaten der Erde, deren Fundament Ordnung, Freundschaft, Hilfsbereitschaft seien (Dresdner Volkszeitung, 13.07.1929, S. 7). Das Blatt begleitete die Aktivitäten der Kötzschenbrodaer Kinderrepublik mit kontinuierlicher Berichterstattung. Dabei wird deutlich, dass die Kinderrepubliken – neben dem Einüben demokratischer Prinzipien – den Kindern und Jugendlichen aus zumeist wenig begüterten Arbeiterfamilien in erster Linie eine sinnvolle und schöne Sommerferienzeit bieten sollten.
Passenderweise schließt die „Dresdner Volkszeitung“ ihren Artikel mit den euphorischen Worten: Das sollen Ferien werden! Ferien in Sonne, Licht und Freiheit getaucht.