Fundstück aus der Philipps-Universität Marburg und dem ISGV – im Mai 2021
Der Elefant „Jack“: Über die Wahrscheinlichkeit des Unwahrscheinlichen im wissenschaftlichen Arbeiten
von Nadine Kulbe
Das ist „Jack“ – das Skelett eines indischen Elefanten, das seit 2002 im Foyer des Fachbereichs Biologie der Philipps-Universität Marburg präsentiert wird. Hat das Skelett irgendetwas mit dem ISGV zu tun? Warum bekommt es eines unserer monatlichen Fundstücke gewidmet? Die Geschichte dazu beinhaltet gleich mehrere Fundstücke – und sie geht so:
Im Jahr 2015 veröffentlichten die Mitarbeiter*innen des ISGV in loser Folge Beiträge zum Thema „Sachsen weltoffen“. Ausgelöst durch das intensive Migrationsgeschehen in diesem Jahr war es das Ziel des Projekts, Migration, Fremdheit, Kultur und ‚Heimat‘ in Sachsen vom Mittelalter bis in die Gegenwart für eine breite Öffentlichkeit zu thematisieren. Es entstanden kurze Beiträge, die auf der kulturanthropologischen wie landesgeschichtlichen Forschungsarbeit im ISGV aufbauten. Sie wurden zunächst online veröffentlicht, später dann in leicht überarbeiteter Form auch als populärwissenschaftliche, kostenfreie Publikation herausgebracht.
Lutz Vogel, damals wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bereich Sächsische Geschichte am ISGV, verfasste zum Beispiel einen Beitrag über kleinräumige Migration in Sachsen im 19. Jahrhundert. Basierend auf seiner Dissertation schilderte er den „Normalfall Migration“ in Sachsen zu jener Zeit. Dem populärwissenschaftlichen Anspruch des Projekts geschuldet war sicherlich auch die Erwähnung von zwei kuriosen Berufsbezeichnungen zur Darstellung der Bandbreite der Arbeitsbiografien der Migrierenden: So fand sich nämlich in einer Liste österreichischer Staatsangehöriger, die sich 1857 in Sachsen aufhielten, „ein aus der Nähe von Pilsen (tschech. Plzeň) stammender Händler, der sich in Neustädtel bei Schneeberg dem Verkauf von Ameiseneiern widmete, oder der in Chemnitz lebende ‚Elefanten-Führer‘ Andreas Grubhofer aus Innsbruck.“ Wer quellenbezogen arbeitet, kennt das: Man sitzt tage- und wochenlang im Archiv, wälzt Akten und findet irgendwann solche ‚alltäglichen Besonderheiten‘ (Fundstück 1). Leider bleibt, vor allem in zeitlich befristeten Projekten, fast nie Zeit, solchen Entdeckungen nachzugehen, geschweige denn darüber zu publizieren.
Mehr als fünf Jahre später erhielt Lutz Vogel, der seit 2016 am Hessischen Landesamt für geschichtliche Landeskunde in Marburg tätig ist, eine Anfrage. Die Präparatorin Heike Worth bat, nachdem sie auf seinen Beitrag auf der ISGV-Webseite gestoßen war (Fundstück 2), um weitere Informationen über Andreas Grubhofer. In der Zoologischen Sammlung der Philipps-Universität Marburg befindet sich nämlich seit Mitte der 1860er Jahre das Skelett des Elefanten „Jack“ (Fundstück 3), der bis zu seinem Tod zu einer unter Andreas Grubhofers Leitung stehenden Menagerie gehört hatte.
Heike Worth, die die Zoologische Sammlung in Marburg betreut, beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit dem Skelett von „Jack“ und mit dessen Geschichte. Bekannt schien bisher Folgendes: Im Februar 1863 gastierte der in Chemnitz ansässige Grubhofer mit seinem Zirkus in Marburg. Teil der Menagerie war schon seit mehreren Jahren der „berühmte große Königs-Elephant Jack aus Indien“. Nach den Auftritten in Marburg zog das Ensemble weiter in das nur wenige Kilometer entfernte Kirchhain. Hier ereignete sich ein folgenschwerer Vorfall: Das Tier wurde scheinbar plötzlich aggressiv, zerstörte Mobiliar und rannte umher. Nach mehreren Stunden des Wartens auf Besserung gab Grubhofer seine Zustimmung zur Tötung. Zunächst wurde erfolglos versucht, „Jack“ mit Strychnin zu vergiften. Dann rückten Jäger aus den umliegenden Orten an und schossen über 100 Kugeln auf den Elefanten. Die Jagd endete erst nach einem tödlichen Schuss in dessen Kopf. Den Kadaver erwarb anschließend die Marburger Universität. Der Elefant wurde umständlich nach Marburg transportiert, das Skelett freigelegt und präpariert, um anschließend erst in die anatomische Sammlung und einige Jahre später in die zoologische Sammlung eingefügt zu werden. In den späten 1960er Jahren wurde das Skelett abgebaut, um stattdessen „drei Doktoranden Platz zu bieten“. Nach mehreren Jahren im Depot schwebt „Jack“ seit 2002 repräsentativ im Foyer des Fachbereichs Biologie auf den Marburger Lahnbergen. Eine Infotafel zeigt zudem, wie das Skelett anlässlich des 475-jährigen Universitätsjubiläums wieder zusammengebaut worden ist; eine Vitrine präsentiert weiteres Material: u.a. eine der Kugeln, mit denen 140 Jahre zuvor auf „Jack“ geschossen worden war.
Als Quellen zur Rekonstruktion von „Jacks“ Biografie standen Heike Worth bislang ein Sammlungskatalog von 1867, ein Plakat des Schaustellers Grubhofer, die Zusammenfassung der Ereignisse des Jahres 1863 in der Kirchhainer Chronik (1952) und weitere Berichte in der hessischen Lokalpresse zur Verfügung; alle Berichte waren viele Jahrzehnte nach dem Ereignis verfasst worden. Nach Plakat und Berichten sollte der Elefant zum Zeitpunkt seines Todes 22 Jahre alt gewesen sein, der Sammlungskatalog nannte hingegen 24 Jahre. Als Grund für seine Wesensveränderung, die zu seinem Tod führte – er war bislang als zahm bekannt –, kam in Betracht, dass der für seine Betreuung zuständige Pfleger einen Unfall mit nachfolgender Amputation des Beines gehabt hatte und dass dessen neues Holzbein das Tier verunsichert haben könnte. Auch der Vorname des Impresarios Grubhofer war unsicher: Auf dem Plakat stand A. Grubhofer und in einem Zeitungsartikel „Anton“. Ergebnislos blieb für Heike Worth lange die Suche nach weiteren Informationen über Grubhofer, über den lediglich bekannt war, dass er aus Innsbruck stammte.
Hier half nun der von Lutz Vogel aus Archivquellen entnommene Hinweis, dass sich Andreas Grubhofer 1857 im sächsischen Chemnitz aufgehalten hatte. Auf dieser Basis nahm Heike Worth eine neuerliche Recherche in der – seit einiger Zeit über die SLUB Dresden digitalisiert vorliegenden – zeitgenössischen Chemnitzer Lokalpresse vor, die einige der bislang sicher geglaubten Informationen revidierte (Fundstück 4). Sie konnte das Alter des Elefanten mit 24 Jahren sicher belegen, dank weiterer digitalisierter, OCR-erkannter Zeitungen eine lange Liste von Auftrittsorten in Sachsen, Schwaben, der Schweiz und Hessen zwischen 1857 und 1863 zusammenstellen sowie ausschließen, dass die „Wildheit“ des Tieres von der Prothese des Pflegers hergerührt hatte, denn dessen Unfall hatte sich bereits 1857 ereignet. Am wahrscheinlichsten für die plötzlich auftretende Aggressivität des Tieres scheint die „Musth“, ein bisweilen mehrere Monate dauernder, durch eine verstärkte Testosteron-Produktion ausgelöster Zustand, der auch bei anderen in jener Zeit zur Schau gestellten Elefanten belegt ist.
Andreas Grubhofer, so zeigen Anzeigen aus lokalen Zeitungen vom Anfang der 1860er Jahre, war Impresario einer Wandermenagerie: eine Mischung aus Zirkus und Zoo, bei der ‚aus fernen Ländern‘ stammenden Tiere oder auch „possierliche Waschbären“ in der Regel ‚nur‘ ausgestellt wurden und nicht dressiert waren. „Jack“ allerdings konnte, so ein Plakat, Horn blasen, zu eigenem Mundharmonikaspiel marschieren, eine Pistole abfeuern, als Hausmädchen verkleidet den Boden aufwischen, Dinge mit dem Rüssel anreichen, auf zwei Beinen balancieren und einiges mehr. In seinen Annoncen warb Grubhofer zudem mit den langen Stoßzähnen, der besonderen Größe seiner Tiere oder mit ihrer Fütterung, die von „Frl. Grubhofer“ vorgenommen wurde. (Fundstück 4) Interessant in diesem Zusammenhang ist übrigens auch die Frage, wie die Gestaltung der Annoncen in der lokalen Presse funktionierte. Grubhofer scheint für die Bebilderung Druckklischees mit sich geführt zu haben, die dann jeweils an den örtlichen Zeitungsverlag gegeben wurden.
Es bleiben aber auch Fragen offen: Noch nicht geklärt werden konnte bisher, ob „Jack“ vor 1857 Teil von Grubhofers Menagerie gewesen ist – weiter zurück reichen die bis dato recherchierten Inserate nicht. Unklar ist auch, woher Jack eigentlich kam bzw. wie und wann er in Grubhofers Besitz gelangte. Vielleicht war er ein ‚Wildfang‘ aus der britischen Kolonie Indien und mit dem Schiff nach Europa gebracht worden. Es gab Vertriebswege für ‚exotische‘ Tiere über London und Hamburg, aber auch über die niedersächsische Kleinstadt Alfeld, wo das Unternehmen Reiche und Ruhe im 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts mit Zoologica und Ethnologica handelte. Seit vergangenen Jahr widmet sich ein Projekt dem weltweiten Netzwerk des Tierhandelsunternehmens und untersucht, wie Menschen und Objekte nach Europa gelangten. Der Kunsthistoriker Stephan Oettermann gibt in seinem 1982 erschienen Buch „Die Schaulust am Elefanten“ an, dass zwischen dem 15. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts mindestens 51 Elefanten nach Europa importiert worden waren, danach vervielfachte sich diese Zahl.
Im April dieses Jahres war es dann endlich so weit: Lutz Vogel und ich konnten „Jack“ besuchen. Heike Worth berichtete über die Mühen, das Skelett zusammenzubauen, seine Montage in der Halle, zeigte uns aber auch die umfangreiche und beeindruckende Zoologische Sammlung der Marburger Universität mit ihren Feucht- und Trockenpräparaten (u.a. das Ganzkörperpräparat eines von ihr selbst präparierten Maulwurfs – Fundstück 5 –, das mich an meinen 2020 geschriebenen Text über Maulwürfe in wissenschaftlichen Sammlungen denken ließ). Sie eröffnete uns damit eine von unseren üblichen Arbeitsfeldern weit entfernte Welt.
So fand der dank einer populärwissenschaftlichen, digitalen Veröffentlichung etablierte, disziplinenübergreifende Austausch zwischen Geschichte und Biologie endlich auch persönlich statt – auch wenn wir uns, die Abstands- und Maskenregeln einhaltend, nicht wirklich gesehen haben. Aus einem lediglich ‚kuriosen Aktenfundstück‘ wurde auf einmal eine ganze Geschichte über das Leben und Sterben eines Tieres, über Schaustellerei und Populärkultur im 19. Jahrhundert, über die Vorteile und Chancen der Digitalisierung, über den Sinn, Archivquellen auszuwerten und zu publizieren, über ein mutmaßliches Kapitel der Kolonialgeschichte und darüber, dass die in Sammlungen enthaltenen ‚Objekte‘ und Informationen eben nicht einfach nur ‚Fundstücke‘ sind, sondern eine Geschichte haben, die allzu oft auch mit Mühsal, Leid und Tod verbunden ist.