Fundstück aus dem ISGV – im Mai 2020

Arbeit – Schreibtisch – Büro. Wissenschaftsgeschichte in Bildern

von Nadine Kulbe

Es ist der 19. Dezember 1993, ein schneeloser Winternachmittag drei Jahre nach der deutsch-deutschen Wiedervereinigung. Die Volkskundlerin Brigitte Emmrich (1940–2009) sitzt in ihrem Büro am Schreibtisch. Ihre alte „Arbeitsstelle Dresden“ des Wissenschaftsbereichs Kulturgeschichte/Volkskunde am Zentralinstitut für Geschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR (AdW) gibt es nicht mehr, seit die AdW Ende 1990 abgewickelt wurde. Ihre neue Arbeitsstelle, die nach mehrjährigen Evaluierungs- und Umstrukturierungsmaßnahmen eingerichtete „Arbeitsgruppe Volkskunde“ am Institut für Geschichte der Technischen Universität Dresden, wird erst zu Beginn des Jahres 1994 gegründet. Als Brigitte Emmrich an diesem Winternachmittag an ihrem Schreibtisch im Ständehaus in der Augustusstraße 2 in Dresden sitzt, ist an das Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde (ISGV), das 1997 aus der Arbeitsgruppe hervorgehen wird, noch nicht zu denken. Auch hier wird Brigitte Emmrich noch knapp zehn Jahre tätig sein – bis 1998 weiterhin in der Augustusstraße, nach dem Umzug des ISGV dann im Bürogebäude „Drepunct“ am Zelleschen Weg.

Der Fotograf Jörg Hennersdorf hat mit seiner Aufnahme ein Stück Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde wie auch der Geschichte des ISGV eingefangen: mit dem Büroraum und seinen Möbeln, mit der Akteurin, mit ihren Arbeitspraktiken und den „Dingen“ ihrer Arbeitswelt. Schreibtisch und Stuhl – so die Legende – stammen noch von Adolf Spamer (1883–1953), dem zentralen Akteur der frühen sächsischen Volkskunde. Auf dem Tisch liegen diverse Utensilien, ein Telefon steht rechts, am Regel kleben Notizzettel, darauf liegen Archivboxen, einen Computer gibt es noch nicht – die kleine rote Teedose links als Behältnis für Büroklammern wird Brigitte Emmrich später an den Zelleschen Weg mitnehmen. Dort ist sie bis heute in Benutzung.

Das Bildarchiv des ISGV birgt unter dem Schlagwort „Wissenschaftsgeschichte“ nicht nur dieses Foto, sondern zahlreiche Aufnahmen aus mehreren Jahrzehnten volkskundlicher Forschung in Sachsen und in der DDR. Brigitte Emmrich begegnet immer wieder: bei Ausflügen, Tagungen oder Besprechungen.

Die Bilder zur Wissenschaftsgeschichte gehören zu den bisher kaum untersuchten Bildbeständen des ISGV. Dabei sind sie viel mehr als bloße Abbilder des Gewesenen. Sie bergen Erinnerungen. Und sie machen die Veränderung individueller, sozialer und politischer Kontexte ebenso sichtbar wie sich wandelnde Praktiken, Techniken und Objekte der Arbeits- und Wissenschaftskultur. Welche Rolle beispielsweise Schreibtische im (Arbeits-)Alltag spielen und wie sich dies in Bildern manifestiert, ist in einem Beitrag unseres Blogs „Bildsehen / Bildhandeln“ nachzulesen. Welchen Wert Bilder und die aus ihnen gebildeten Archive für eine wissenschaftliche Einrichtung haben, thematisiert unsere Online-Tagung „Bildarchive. Wissensordnungen – Arbeitspraktiken – Nutzungspotenziale“ (15. Mai bis 10. Juli 2020).

Das Potenzial der in unserem Bildarchiv verwahrten Fotografien zur Wissenschaftsgeschichte ist noch lange nicht erschöpft – auch deshalb, weil es inzwischen selbst ein Stück wissenschaftlicher Geschichte geworden ist und sich in ihm der Wandel von Arbeitsalltag und Forschungsarbeit spiegeln.

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