Fundstück aus dem ISGV – im März 2024

„Für die Vegetarier in der DDR und für die Verwirklichung des Vegetarismus tun wir, […] soviel es uns möglich ist.“ (Arbeitsgemeinschaft DDR-Vegetarierfreunde, Mai 1986)

von Claudia Pawlowitsch

Zum Ende der 40-tägigen christlichen Fastenzeit am 30. März rückt das Fundstück des Monats eine Idee ins Rampenlicht, die zwar ihre modernen Wurzeln im christlichen Pietismus hat, aber heute weit darüber hinaus verbreitet ist: der Vegetarismus.

Noch vor einigen Jahren galt der Vegetarismus als gesellschaftliches Nischenphänomen, über das diverse falsche Vorstellungen bis hin zu Unterstellungen kursierten. Um etwas Licht ins Dunkel zu bringen, sollen die heutigen Fundstücke einen Einblick in das Leben von Vegetarier:innen in der DDR und die Bedeutung ihrer (familiären) Verbindungen zur Bundesrepublik Deutschland geben. Dafür wurden verschiedene Quellen herangezogen, darunter die Sammlung von Ragnar Baldauf aus Dresden mit Unterlagen seines vegetarisch lebenden Großvaters Karl Biederbeck, die Mitteilungsblätter der Arbeitsgemeinschaft DDR-Vegetarierfreunde aus der Siedlung Eden in Oranienburg, die Tagebücher des Dresdner Vegetariers Max Bellmann im Lebensgeschichtlichen Archiv im Institut für Sächsische Geschichte und Volkskunde sowie die umfangreiche Überlieferung des Vegetarierbundes Deutschland im Archiv für alternatives Schrifttum in Duisburg.

Lage der Vegetarier:innen in der DDR

Die Lage der Vegetarier:innen war nach 1945 äußerst schwierig: Insbesondere frisches Obst und Gemüse waren Mangelware und alternative Ernährungsformen fanden bei der Verteilung von Lebensmittelmarken keine gesonderte Berücksichtigung. Der lang ersehnte organisierte Umtausch von Fleisch- und Fischmarken gegen Quark, Käse und Eier begann in Dresden erst ab 1950 durch das Ernährungsamt. Der Vegetarier Karl Biederbeck (1873-1956), der in der Tabakgegnersiedlung auf der Leubnitzer Höhe in Dresden lebte und sich zudem in vielen Vereinen gegen den Tabak- und Alkoholkonsum einsetzte, half dem Amt bei der Erstellung einer Liste für diesen Umtausch. Basierend auf dieser Liste stellte er Vegetarierausweise aus, die für den Tausch erforderlich waren.

Etwa 1200 Menschen aus den umliegenden Orten wie Dresden, Pirna, Radeberg, Gohrisch, Liegau-Augustusbad und Langebrück nutzten diese Möglichkeit, wobei viele gesundheitliche Gründe geltend machten. Neben der Ernährungsfrage war auch die organisatorische Situation für die ohnehin wenigen Vegetarier:innen nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges nicht gut.

In den vier verschiedenen Besatzungszonen kam es unmittelbar nach 1945 zu Neugründungen oder Wiederbelebungen alter Vereine. Bereits vier Jahre später waren sechs verschiedene Vereine nachweisbar, die eigenen Angaben zufolge zwischen 60 und 1200 Mitglieder hatten. Auf dem Gebiet der späteren DDR war nur der 1930 gegründete Deutsche Vegetarierverband mit Sitz in Dresden vertreten. Sein Vorsitzender, Georg Förster, galt in Vegetarier:innenkreisen als schillernde und nicht immer unumstrittene Person. Gemeinsam mit seiner Frau Martha Förster widmete er sich zeitlebens zahlreichen vegetarischen Projekten. So waren beide Mitbegründer der Internationalen Vegetarierunion am 18. August 1908 im Evangelischen Vereinshaus auf der Zinsendorfer Straße in Dresden, des Vereins Vegetarischer Frauen (1910), der Deutschen Vegetarischen Gesellschaft (1913), ferner des Deutschen Vegetarierarchivs auf der Meißner Landstraße 94. Mit Eingliederung aller Vereine in den Kulturbund verschwand schließlich auch der Deutsche Vegetarierverband und damit der organisierte Vegetarismus in der DDR.

Die Aktion DDR-Vegetarierfreunde

Mitteilungsblatt Arbeitsgemeinschaft DDR-Vegetarierfreunde,
Bad Soden am Taunus 1976, Sammlung Eden
Gemeinnützige Obstbau-Siedlung eG. (Foto: Claudia Pawlowitsch)

Selbsthilfe war die Losung, unter der der 1956 aus Dresden nach Hofheim/Taunus verzogene Georg Härtel gemeinsam mit seiner Frau verschiedene Unterstützungsmaßnahmen für die in der DDR verbliebenen Vegetarier:innen ergriff. Da sich diese nicht eigenständig organisieren durften und auch der Mangel an für Vegetarier:innen wichtigen Ernährungsbestandteilen, die zunehmend weniger in den Reformläden HO-Haus der Gesundheit oder Diät-HO der DDR erhältlich waren, eklatant war, übernahmen sie noch im selben Jahr eine Adresskartei der Vegetarier Union Deutschland und des späteren Bundes für Lebensreform. Diese nutzten sie zunächst für den schriftlichen Kontakt zu befreundeten Vegetarier:innen in die DDR und begannen gemeinsam mit anderen Mitstreiter:innen ab 1958 im Rahmen der Aktion DDR-Vegetarierfreunde mit dem Versand von Weihnachtspaketen. Die Pakete sollten den Mangel, insbesondere an Nüssen, Sojaprodukten, vegetarischen Brotaufstrichen, Hefeextrakten, pflanzlicher Wurst, getrockneten Früchten, Vitamin-R, Säften und Literatur zu gartenbaulichen und naturärztlichen Themen, lindern helfen.

Stempel Deutsches Vegetarierarchiv, Dresden, 2. März 1950, Sammlung
Ragnar Baldauf, Dresden. (Foto: Claudia Pawlowitsch)

Neben diesen Sendungen waren gegenseitige Besuche und der persönliche Austausch zur Festigung freundschaftlicher oder familiärer Bindung wichtig. Dokumentiert wurden diese Hilfen in einem in unregelmäßigen Abständen erscheinenden vierseitigen Mitteilungsblatt. So berichten dort die Härtels von zahlreichen Besuchsreisen nach Magdeburg, Dresden, Chemnitz, Bautzen, Leipzig und in das Erzgebirge. Rückblickend stellten die Zusammenkünfte für alle Beteiligten einen Höhepunkt dar, machten jedoch gleichzeitig deutlich, wie unterschiedlich die Entwicklungen in den beiden Teilen Deutschlands verliefen. Exemplarisch zeigte sich dies am Einzug des Veganismus und des biologischen Gartenbaus in der BRD. So heißt es im Mitteilungsblatt vom Mai 1975: „Es gibt bei den Freunden in der DDR oftmals gleiche Bezeichnungen, die ganz anders verstanden werden als von unserer Seite. Auch so manche Erlebnisse und Gegebenheiten werden ganz anders verstanden, und wir aus der BRD können so manches Anliegen oder manche Auffassung der DDR-Vegetarierfreunde nicht verstehen, bzw. wir verstehen es ganz anders.“

Umgekehrt besuchten auch Vegetarier:innen aus der DDR, die das Rentenalter erreicht hatten, Gleichgesinnte in der BRD, wie unter anderem aus den Tagebüchern des Dresdner Vegetariers und Buchdruckers Max Bellmann hervorgeht. Wenige konnten auch an Veranstaltungen oder gar an Kongressen der Internationalen Vegetarierunion teilnehmen. Dass Wissen nicht nur in die DDR hinein, sondern auch aus ihr heraus vermittelt wurde, zeigen die Bemühungen Georg Härtels, das Deutsche Vegetarierarchiv von Georg Förster nach seinem Tode zu retten und es unter anderem nach Bad Soden/Taunus zu transferieren. Jedoch ist über den Verbleib nicht viel bekannt, da das Archiv vermutlich nicht vollumfänglich überliefert wurde, sondern Konvolute in verschiedene Archive (private) Bibliotheken integriert wurde. [Abbildung 4: Stempel Archiv]

Allen Bemühungen zum Trotz blieb das vielfältige Engagement innerhalb des Bundes für Lebensreform eine ehrenamtliche Privatangelegenheit. Selbst als Georg Härtel im Jahr 1974 in zahlreichen Schreiben an den Bund die dringende Notwendigkeit von Unterstützungsmaßnahmen betonte und die Gründung eines eigenen Referats für die Betreuung der DDR-Vegetarier innerhalb der Organisation anregte, lehnte der Vorstand diesen Vorschlag mit dem Verweis auf Überwachungsproblematiken seitens der DDR-Behörden und den angestrebten Status der Gemeinnützigkeit ab. Eine Zurückhaltung, die zumindest nicht für die Internationale Vegetarierunion galt, denn dort konnte Georg Härtel seit 1958 die Interessen der DDR-Vegetarier:innen offiziell vertreten.

Gründung eines Vegetariervereins in der DDR/Deutschland

Vereinsregisterurkunde. Zweigverband DDR. Vegetarier-Bund
Deutschlands. Bund für Lebenserneuerung e.V., Halle/Saale,
17. Mai 1990, Afas: NLO.4189 – VEBU/Geschichte des VEBU II,
Teil II. (Foto: Claudia Pawlowitsch)

Einen offiziellen Vegetarischen Verein hat es kurz vor Ende der DDR dann doch noch gegeben. Laut dem Gründungsprotokoll vom 24. März 1990 versammelten sich im Marktgemeindehaus in Halle die noch nicht organisierten Vegetarier:innen aus Dresden, Karl-Marx Stadt, Leipzig und Halle und der Vorsitzende des in der Bundesrepublik bestehenden Vegetarier-Bunds Deutschlands, um über die gemeinsame Zukunft zu sprechen. Verabredet wurde die Gründung von Regionalgruppen, sogenannten Freundeskreisen, die sich perspektivisch dem Bund anschließen sollten. Die organisatorische Inklusion der Regionalgruppen war eine Aufgabe, die auf die Zeit nach der Währungsunion verschoben und nach den in der Bundesrepublik geltenden Gesetzen und Bestimmungen vollzogen werden sollte. Satzungsänderungen, die Aufnahme von zwei Sonderbeauftragten aus der DDR in die Bundesleitung, die inhaltliche Unterstützung der Regionalgruppen durch den Bundesverband sowie eine temporäre finanzielle Entlastung für die ostdeutschen Mitglieder war vorgesehen. Am 17. Mai 1990 wurde unter der Vereinsregisternummer 75 der neu gegründete Zweigverband des Vegetarierbundes Deutschland. Bund für Lebenserneuerung e.V. in Halle/Saale in das Vereinsregister eingetragen.

In einer Ansprache der Bundesversammlung im Oktober 1990 in Wildbad/Rotenburg, an der auch zahlreiche Vegetarier:innen der neuen Regionalgruppen teilnahmen, wurde auch ausdrücklich das Leben als Vegetarier:in in der DDR gewürdigt. „Wie lange haben wir diesen Tag herbeigesehnt. […] Nach vielen Jahren nur brieflicher Kontakte können wir uns nun persönlich kennenlernen. Wenn wir heute das ganze Ausmaß der unzureichenden Versorgung, der menschlichen Belastungen und Unterdrückung, der wirtschaftlichen Not und vor allem die katastrophale Belastung der Umwelt im östlichen Landesteil kennenlernen, dann erscheint uns all das was wir tun konnten durch Briefe, Zeitschriften, Pakete und Freiplätze für Veranstaltungen, sehr gering gegenüber diesen großen Einschränkungen, denen Menschen ausgesetzt waren.“

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