Fundstück aus dem ISGV – im März 2023
What about Zugangsbücher? Über die Anfänge der ISGV-Bibliothek
von Nadine Kulbe
In unserer Institutsbibliothek gibt es tausende Bücher: Monografien, Sammelbände, Zeitschriften, Lexika, Atlanten – große Bände, kleine Bände, viele Bände, insgesamt mehr als 100.000 Medien. Sie ist eines unserer wichtigsten Arbeitsinstrumente, denn sie enthält vor allem Literatur zu den beiden Forschungsgebieten des ISGV, also zur Volkskunde/Kulturanthropologie und zur (Sächsischen) Landesgeschichte.
Einen großen Teil dieser Bibliothek verdankt das ISGV seinen Vorgängereinrichtungen. Bereits das Institut für Volkskunde und Volksbrauch (ab 1947 Institut für Volkskunde) in Dresden, das 1945 auf Initiative von Adolf Spamer (1883–1953) gegründet worden war, verfügte über eine eigene Bibliothek, die bei der Gründung des ISGV 1997 übernommen wurde und seitdem mit einem volkskundlich-kulturanthropologischen und einem landesgeschichtlichen Schwerpunkt weitergeführt wird. Die Anfänge dieser inzwischen fast 80 Jahre alten wissenschaftlichen Bibliothek sind in den noch vorhandenen Zugangsbüchern dokumentiert. Zugangsbücher – oder Akquisitionsjournale – sind ein Inventarverzeichnis, in denen der Medienbestand einer Bibliothek chronologisch in der Reihenfolge der Erwerbung aufgeführt wird.
Die ersten Einträge darin stammen vom Februar 1946. Zu diesem Zeitpunkt wurden 190 Bände bearbeitet, die vom ehemaligen Heimatwerk Sachsen, einer 1936 gegründeten und nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgelösten nationalsozialistischen Kultur- und Erziehungseinrichtung, übernommen worden waren. Jedes Buch erhielt zunächst in der Reihenfolge der Eintragung eine laufende Nummer, die sogenannte Zugangsnummer. Außerdem wurden zu jedem Band minutiös Verfasser:in, Titel, Verlag, Erscheinungsjahr und gegebenenfalls ein Preis vermerkt, sofern es sich um einen Ankauf handelte. Waren die Bücher Geschenke, dann wurden die Namen der Schenkenden notiert. Durch diese genaue Dokumentation lässt sich nachvollziehen, welche Bücher wann und wie erworben wurden, wie viele Bücher in einem bestimmten Zeitraum hinzukamen, wie teuer sie eventuell gewesen sind und ob beispielsweise Bücher zu einem bestimmten Thema zu einem Zeitpunkt in größerer Zahl angeschafft worden sind, weil es vielleicht gerade ein besonderes Forschungsinteresse gab.
Das erste, im Februar 1946 begonnene Zugangsbuch war im März 1948 nach 2.370 Nummern voll, anschließend wurde mit dem zweiten Band begonnen. Auf diese Art inventarisiert wurde bis zum 20. Mai 1992. An diesem Tag erfolgte der letzte Eintrag mit der Nummer 22.724. Es war die Dissertation unseres langjährigen Kollegen Andreas Martin über „Die Korbmacher von Lauter“ (2010 erschienen in der Reihe „Spurensuche“), die das zehnte und letzte Zugangsbuch des Instituts für Volkskunde abschloss. Danach begann in mehrfacher Hinsicht eine neue Zeit. Erstens erfolgte die Inventarisierung nun elektronisch in einer Datenbank, zweitens wurden ab der Nummer 23.000 rund 5.000 Bände aus der Bibliothek der Volkskundlerin Ingeborg Weber-Kellermann (1918–1993) erfasst. Durch diesen Ankauf konnte der Bestand der Bibliothek des Instituts für Volkskunde, der bis in die frühen 1990er Jahre vor allem durch Literatur aus den ehemals sozialistischen Ländern geprägt war, um Bücher westeuropäischer Fachtraditionen erweitert werden.
Die alten Zugangsbücher sind aber noch aus einem weiteren Grund interessant, denn sie geben wissenschaftsgeschichtlich wertvolle Informationen zur einstmals geltenden Fachsystematik der Volkskunde. Nach ihrer Inventarisierung wurden die Bücher nämlich nicht in der Reihenfolge ihrer Zugangsnummern, sondern systematisch nach Fachgebieten aufgestellt. Die Systematik reicht von I = Bibliografien und Wörterbücher, über XI = Volksglaube, XII = Sitte und Brauch, XV = Volkstracht bis zu XXXa = Zeitschriften und XXXb = Kalender und Jahrbücher.
Bei den Zugangsbüchern war die Erschließung der in der Bibliothek aufgestellten Literatur aber noch nicht beendet, denn anschließend wurde katalogisiert. In der vordigitalen Zeit suchte man Literatur üblicherweise in einem Zettelkatalog, der entweder nach den Namen der Verfasser:innen (alphabetischer Katalog) oder der Fachlogik (systematischer Katalog) organisiert war. Auch diese beiden Kataloge sind heute noch im ISGV vorhanden und enthalten tausende Katalogkarten mit bibliografischen Angaben.
Um es praktisch zu machen: Bei dem Band, der unter der Zugangsnummer 1 in der Bibliothek des Instituts für Volkskunde inventarisiert worden ist, handelt es sich um ein Werk des Schriftstellers und Heimatforschers Paul Apitzsch (1873–1949) mit dem Titel „Wo auf hohen Tannenspitzen. Ein vogtländisches Wanderbuch“, 1932 im Verlag Franz Neupert in Plauen/V. erschienen. Es wurde in die Systematikgruppe H IV mit der laufenden Nummer 300 eingeordnet, was zusammen die Signatur des Bandes ergibt. Diese hohe Nummer bei der Signatur ist auch ein Hinweis darauf, dass die systematischen Signaturen nicht von Anfang an vergeben worden sein können, denn dann hätte dieses Buch mit der Zugangsnummer 1 sicher eine sehr viel niedrigere laufende Nummer in der Systematikgruppe erhalten. Schlägt man das Buch dann auf, so springen auf der Titelseite gleich mehrere Eigentumsstempel ins Auge: des Heimatwerks Sachsen, des Instituts für Volkskunde und Volksbrauch sowie des Instituts für Volkskunde, in dem auch die Zugangsnummer 1 vermerkt ist. Unterhalb dieses Stempels wurde zudem die Signatur notiert. Die Stempel dokumentieren also ebenso wie das Zugangsbuch einen Teil der Provenienzgeschichte des Bandes.
Ab Januar 1965 (ab Nr. 15924) wurden neue Bände in der Bibliothek des Instituts für Volkskunde nicht mehr systematisch, sondern fortlaufend nach ihrer Zugangsnummer (numerus currens) aufgestellt. Dieses System verwenden wir noch heute. Neue Bücher erhalten eine rein numerische Signatur, die die alten Zugangsnummern fortführt und sich inzwischen der Nummer 38000 nähert. Die ehemals händisch erfassten Bände werden seit 2005 auch sukzessive retrokatalogisiert, d.h. die Daten aus den alten Katalogen bzw. Zugangsbüchern in den elektronischen Katalog übertragen. Dieser Arbeitsschritt ist bisher bei rund 1.000 Büchern erfolgt. Alle elektronisch erschlossenen Bände in unserer Bibliothek sind auch online recherchierbar. Die zwischen 1946 und 1992 inventarisierten müssen hingegen noch immer in den alten Katalogen nachgesehen werden. Eine Anfrage an unseren Bibliothekar Daniel Geißler zu älterer volkskundlicher oder mit der Volkskunde verwandter Literatur lohnt also.