Fundstück aus dem ISGV – im März 2022
Bunte Erholungslandschaften des Sozialismus? Touristenkarten aus der ČSSR in den Sammlungen des ISGV
von Henrik Schwanitz
Karten sind – nicht nur in der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung – ein beliebtes Element der Visualisierung. Dabei können Karten weit mehr als lediglich textliche Aussagen illustrieren oder bestimmte Räume abbilden. Verstanden als kulturelles Medium können sie gelesen und zum Sprechen gebracht werden. Sie berichten dann von Wegen und Straßen, von Mobilität, vom ‚von A nach B‘ Kommen. In bisweilen handlichen Formaten bieten Karten Orientierung, eröffnen, gewissermaßen vom Schreibtisch aus, einen zweidimensionalen Blick auf die Welt und vermitteln Raumwissen. Insbesondere historische Karten sind dabei auch Zeugnisse ihrer Entstehungszeit, Zeichen von Raumaneignungsverfahren und Raumvorstellungen, von kulturellen Prozessen und Entwicklungen. Auf diese Weise sind Karten in mehrfacher Hinsicht lesbar und bieten Informationen, die weit über die bloße Darstellung dessen, was auf der Karte visuell präsentiert wird, hinausgehen.
Beispielhaft zeigt sich dies an einem Bestand von sogenannten Touristenkarten, die sich in den Sammlungen des ISGV befinden und lange Zeit einen Dornröschenschlaf hielten, ehe sie das Interesse des Schreibers weckten.
Es handelt es sich um ein Konvolut von über 30 Karten aus den späten 1950er- bis 1970er-Jahren. Der Großteil davon stammt aus der Tschechoslowakei (ČSSR), doch finden sich ebenso Touristenkarten aus der DDR sowie aus Polen und Bulgarien hierunter. Wann und warum diese Karten gesammelt wurden, ist unbekannt. Sicher ist jedoch, dass sie über die Sammlungen des Instituts für Volkskunde an der Akademie der Wissenschaften der DDR in den Bestand des ISGV gekommen sind. Beachtenswert sind diese Karten nun nicht wegen der dargestellten Straßen, Wege- und Wandernetze. Vielmehr sind es der Kartentypus „Touristenkarte“ und vor allem die bunte Gestaltung der Umschläge, die sogleich ins Auge fallen und Interesse wecken.
Die Touristenkarten aus der ČSSR stellen einen spezifischen Kartentypus dar. Gedacht für touristische Aktivitäten wurden sie von zentralen staatlichen Stellen herausgegeben – im Falle der ČSSR durch die staatlichen kartografischen Zentralinstitute in Bratislava und Prag. Dieser Kartentypus und seine Herstellungs- und Verbreitungsweise sind dabei keine tschechoslowakische Besonderheit, sondern lassen sich – wie der ISGV-Bestand zeigt – auch für andere sozialistischen Staaten nachweisen.
Die älteste Touristenkarte in den Sammlungen des ISGV stammt aus dem Jahr 1958. Ihren zeitlichen Schwerpunkt hat die Sammlung jedoch in den 1960er-Jahren. Diese Verdichtung ist dabei nicht zufällig, sondern steht wahrscheinlich im Zusammenhang mit der staatlich gelenkten Forcierung touristischer Aktivitäten auf dem Gebiet der ČSSR in ebendieser Zeit. In der Folge dieses Prozesses wurden gerade auch die Bergregionen z. B. der Hohen und Niederen Tatra und der Großen und Kleinen Fatra, später klassische Ziele unzähliger DDR-Urlaubsreisen, von staatlicher Strukturpolitik als Tourismusregionen hervorgehoben.
Mit der staatlich forcierten Verfügbarmachung von Natur für alle Teile der sozialistischen Gesellschaft hing auch eine besondere Vorstellung von Landschaft zusammen, die sich insbesondere in der künstlerischen Gestaltung der Umschläge widerspiegelt. Denn in dem Anspruch des sozialistischen Staatssystems, nicht nur Gesellschaft, sondern auch den Raum ideologisch zu durchdringen, wurde ein spezifisches, sozialistisches Landschaftsbild geformt. Eine Facette dieses Bildes war die Erholungslandschaft, die gerade auch im Zuge der Förderung des Massentourismus von Bedeutung war. Und so wird vor allem in den Titelbildern die Landschaft der zumeist bergigen Regionen dargestellt, mit Aussichten auf Berggipfel und Felsen, auf Weiden, Wasserfälle und traditionelle Architektur. Allerdings ist man dabei weit entfernt von romantisierenden, heimattümelnden Darstellungsweisen. Vielmehr wird auch visuell in der Landschaft das Alte und das Neue miteinander verwoben, in Verbindung gesetzt, wobei sich die Illustratoren einer stark grafisch-geometrischen und bunt-abstrakt wirkenden Farbgebung bedienten.
Noch stärker zeigt sich dies dort, wo die Landschaftsdarstellung mit urbaner oder industrieller Bebauung kombiniert und harmonisiert wird. Die Erholungslandschaft erscheint dabei als harmonische Kombination aus Dagewesenem und (sozialistischer) Moderne. Obwohl lokale Besonderheiten oder Sehenswürdigkeit in den bildlichen Darstellungen Beachtung finden, werden diese doch durch geometrische Formen und Farben abstrahiert, sodass Touristenkarten aus der ČSSR ebenjenen aus der DDR oder aus Polen stark ähneln und eine einheitliche Gestaltung festgestellt werden kann.