Fundstück aus dem ISGV – im Juni 2023
Zwischen Realität und Fiktion: Eine abenteuerliche Reise zu den Goldfeldern Kaliforniens
von Sönke Friedreich
Im Dezember 2022 konnte das Lebensgeschichtliche Archiv des ISGV dankenswerterweise eine Schenkung aus dem Familienarchiv Sonnenschein entgegennehmen, darunter auch einige lebensgeschichtliche Dokumente von Carl Friedrich Sonnenschein (1821–1895), der zwischen 1863 und 1888 als Lehrer am Dresdner Kreuzgymnasium tätig war.* Dazu zählt auch ein kurzer Reisebericht mit dem Titel „Von Albany nach San Francisco im Jahre 1852“, der die dramatischen Begebenheiten einer Reise in den amerikanischen Westen schildert.
Im Juni 1852 macht sich der deutsche Amerikaauswanderer Carl Friedrich Sonnenschein von Albany im Bundesstaat New York auf den Weg zu den kalifornischen Goldfeldern, wo er sich, des „Farmerlebens unter den Yankees“ überdrüssig geworden und dem Goldrausch verfallen, auf die Suche nach dem wertvollen Metall machen will: „Laßt die harte Arbeit hinter euch und hebt Kaliforniens unerschöpfliche Schätze!“. Nach der Fahrt den Hudson River hinab Richtung New York schifft sich der Verfasser gemeinsam mit 400 anderen Goldsuchern auf dem Postdampfer „Illinois“ ein, und bei 30 Grad und einer „nahrhafte[n] Atmosphäre, daß eine zarte Konstitution sich schon davon hätte sättigen können“, geprägt durch Seekrankheit, „Kartenspiel und obszöne Lieder“, geht es auf eine sechstägige Reise nach Jamaica und weiter nach Aspinwall (heute Colón).
Es folgt eine strapaziöse Fahrt quer durch Panama, zunächst mit der im Bau befindlichen Eisenbahn, dann mit einem von Einheimischen gelenkten Ruderboot und schließlich zu Fuß; Hitze und sintflutartige Regenfälle setzen den Reisenden zu, bis Sonnenschein schließlich „todmüde, entkräftet und fieberkrank“ in Cruces landet. Von dort geht es weitere 25 Meilen per Esel nach Panama City, wo der Verfasser, schwer krank und eigentlich nicht mehr reisefähig, seine Reisedollar an habsüchtige Mitreisende und Einheimische verliert. Nach einer zweiwöchigen Pause schifft sich Sonnenschein wieder ein, erkrankt während der Überfahrt an Cholera, die er aber, im Unterschied zu zahlreichen anderen Reisenden, wundersam übersteht, und landet schließlich in San Francisco. Der Bericht schließt mit dem Besuch einer Gaststätte, wo der Verfasser mit befreundeten Reisenden „noch einige Flaschen Wein nach dieser lebend überstandenen, schwersten Reise meines Lebens“ konsumiert. Es folgt als Coda ein Vers aus Wielands Oberon: "Verzweifle keiner je, dem / in der trübsten Nacht / der Hoffnung letzte Sterne schwinden!".
In seiner äußeren Form, aber auch seiner Wortwahl sowie dem zugleich farbenfroh-humorvollen und dramatisch-zugespitzten Erzählstil folgt der Reisebericht den Konventionen der romantischen Abenteuerliteratur des 19. Jahrhunderts (von Walter Scott und Alexandre Dumas bis Jules Verne und Karl May), mischt dabei aber auch Naturbeobachtungen und ethnografisch anmutende Beschreibungen von ‚Land und Leuten‘ ein. Tatsächlich hat sich des Verfassers literarische Begabung nicht nur am Vorbild der großen Schriftsteller seiner Zeit orientiert, der Bericht ist selbst Fiktion – denn Carl Friedrich Sonnenschein hat die Reise nach San Francisco offenbar nie unternommen. Geboren 1821 als Sohn des Gutsbesitzers Christian Gottlieb Sonnenschein in Tünschütz (20 km nordöstlich von Jena in Thüringen gelegen), besucht Carl Friedrich für eineinhalb Jahre das Friedrichs-Lyzeum in Altenburg, studiert einige Semester Nationalökonomie, Mineralogie und Botanik in Jena, schließt das Studium jedoch nicht ab und verdingt sich einige Zeit als Landvermesser in Schmölln. Nach dem Tod seiner Mutter 1849 und einem Streit mit seinem Vater wandert Sonnenschein im Juli 1854 in die USA aus und versucht in Wisconsin als Farmer Fuß zu fassen, kehrt jedoch bereits 1855 wieder nach Europa zurück.
Während seiner Zeit in Amerika verfasst Sonnenschein ein Tagebuch, das jedoch keinen Hinweis auf eine Reise nach San Francisco enthält. Allerdings sind die Eindrücke des Tagebuchs offenbar in den fiktiven Reisebericht eingeflossen, insbesondere die Schilderungen einer Flussreise von New York nach Albany mit dem Dampfer „Manhattan“, über die ein Tagebucheintrag vom 9. August 1854 berichtet und die sich in der Erzählung über die Reise nach San Francisco widerspiegeln. Auch Goldsucher scheint er auf dem Schiff getroffen zu haben. Sonnenschein hat hier zumindest teilweise selbst Erlebtes literarisch verarbeitet und vor dem Hintergrund seiner amerikanischen Erfahrungen die Fiktion einer – eventuell tatsächlich geplanten, aber nicht realisierten – Reise in den verheißungsvollen Westen entworfen.
Doch wann und zu welchem Zweck hat Carl Friedrich Sonnenschein den Reisebericht mit seinem Umfang von 6.538 Worten verfasst? Hierüber lässt sich nur spekulieren. Nach seiner Rückkehr geht der Verfasser zunächst nach Lausanne, dann nach Paris und studiert Psychologie und Logik sowie moderne Sprachen. Der genaue Lebensweg bleibt im Dunkeln, doch ist es naheliegend, dass der Reisebericht in dieser Zeit als literarische Arbeit im Zuge des Studiums verfasst worden ist; eventuell ist er jedoch auch erst später entstanden und war möglicherweise zur Veröffentlichung in der Presse gedacht. Bei der Lektüre der ersten Zeile des Berichtes („Gold! - Wer von allen, die am Anfang dieses Deceniums in den Vereinigten Staaten zu leben Gelegenheit hatten, hat nicht den betörenden, dämonisch ansprechenden Zauber dieses Wortes kennengelernt?“) kommt dem/der Leser:in unwillkürlich der Titel von Friedrich Gerstäckers „Gold! Ein californisches Lebensbild“ in den Sinn, das 1858 erschienen war. Ob dieses Buch oder andere Titel als Inspiration gedient haben, muss Spekulation bleiben.
1863 kehrt Carl Friedrich Sonnenschein schließlich mit seiner französischen Frau Eugenie nach Deutschland zurück, wo er in Dresden eine Anstellung als Lehrer am Kreuzgymnasium annimmt. Hier ist er auch literaturwissenschaftlich tätig; so erscheint 1871 eine Übersetzung des „Wilhelm Tell“ ins Französische sowie eine Abhandlung zur Geschichte des Tell-Stoffes. Bis zu seiner Pensionierung 1888 wohnt er in Dresden, dann kehrt er in seine thüringische Heimat zurück, wo er 1895 stirbt.
* Der Verfasser dankt Helmut und Mira Sonnenschein, Berlin, für Hinweise und Unterstützung bei der Recherche.