Fundstück aus dem ISGV – im Juli 2024
Wie der Vater, so der Sohn – die Wanderbücher von Siegfried Störzner
von Sönke Friedreich
Anfang des Jahres 2024 konnte das ISGV nach längerer Vorbereitungszeit einen in Privatbesitz befindlichen Bestand von insgesamt 42 Wanderbüchern in Kooperation mit der Sächsischen Landesbibliothek – Staats- und Universitätsbibliothek Dresden (SLUB) digitalisieren lassen und damit eine hervorragende Quelle der regionalen Heimat- und Volkskunde dauerhaft sichern helfen. Die Bücher, die seit kurzem über die digitalen Kollektionen der SLUB als Volldigitalisate einsehbar sind und in Kürze auch im Lebensgeschichtlichen Archiv des ISGV präsentiert werden, geben einen anschaulichen Einblick in die vielfältigen Wanderungen und Reisen von Siegfried Störzner (1887–1968), dem Sohn des Arnsdorfer Heimatkundlers Friedrich Bernhard Störzner (1861–1933). Störzner sen. ist, wie ein Handschriftenvergleich ergibt, im Bestand mit dem dreiteiligen Wanderbuch „Zehn Tage auf dem Kamme des Erzgebirges“ (1907) vertreten, die übrigen Bücher wurden jedoch durch seinen Sohn Siegfried verfasst. Sie stellen zugleich eine wichtige Ergänzung zu dem im Hauptstaatsarchiv Dresden befindlichen Nachlass Störzners dar, der seinerseits auch Unterlagen seines Vaters enthält.
Die Biografien von Vater und Sohn Störzner weisen bemerkenswerte Parallelen auf. Dies ergibt sich nicht allein aus ihrer intensiven Wandertätigkeit, sondern aus der Tatsache, dass beide als Lehrer tätig waren. Auch ihre Wirkungskreise in Arnsdorf bzw. Dresden-Wilder Mann zeigen Überschneidungen. Vater wie Sohn waren besonders oft in der Sächsischen Schweiz sowie im Sächsischen und Böhmischen Erzgebirge unterwegs und verfassten in größerer Zahl heimat- und volkskundliche Texte – und ahmten damit bekannte volkskundliche Pioniere wie Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897) nach, dessen „Methode des wandernden Forschers“ (so Riehls Eigenbezeichnung in seinem „Wanderbuch“ von 1892) bahnbrechend war. Friedrich Bernhard Störzner befasste sich vorwiegend mit Sagen sowie mit Kleindenkmalen, auf die er auf seinen Wanderungen stieß (bekannt wurde er insbesondere durch den 1903 in Leipzig publizierten Band „Was die Heimat erzählt“). Siegfried Störzner veröffentlichte etliche Aufsätze über Orte im Dresdner Umland sowie in der Sächsischen Schweiz und war zeitweise im Kulturbund der DDR im Arbeitskreis „Heimatgeschichte, Denkmalpflege, Naturschutz“ aktiv.
Neben den Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch auch einige Unterschiede zwischen den Generationen feststellen. Während man Friedrich Bernhard Störzner genuin volkskundliches Interesse zuschreiben kann, war Störzner jun. eher an ortshistorischen Fragen interessiert. Im Vergleich zu seinem Vater war zudem der geografische Raum, den Siegfried Störzner in seinen Wanderreisen durchmaß, ungleich größer. So thematisieren die im Zeitraum zwischen 1906 und 1950 verfassten Wanderbücher beispielsweise nicht nur etliche Wanderungen im Erzgebirge, sondern auch im Fichtelgebirge, im Pfälzer Wald, Bayerischen Wald, im Allgäu sowie in den Alpen. Schließlich konzentrierte sich Siegfried Störzner hauptsächlich auf landschaftliche und naturräumliche Besonderheiten, während Begegnungen mit Menschen selten notiert wurden. Häufig blieb es bei generalisierenden Beschreibungen wie etwa jener aus dem zweibändigen Album „Unsere Helgolandfahrt“: „Das Leben der Helgoländer ist traulich und häuslich, traurig und einsam im Winter, voll Abwechslung und Lust im Sommer, wenn die Fremden da sind. Die Männer ziehen meist auf das Meer hinaus, und die Frauen folgen mit den Augen den weißen Segeln in die Ferne […].“
Schließlich spiegeln die zahlreichen Bände nicht nur Wanderungen wider, sondern auch Reisen mit dem Fahrrad oder dem Auto. Nach Helgoland reiste Störzner im Juli 1914, unmittelbar vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges, von Dresden aus mit dem Rad – ein Pionier des heute so beliebten Elberadweges bis nach Hamburg; von dort ging es mit dem Schnellpostdampfer „Königin Luise“ auf die See. Im gleichen Jahr unternahm er mit einem Freund einige Ausfahrten mit dem Automobil, einem zu Geschäftszwecken angeschafften Wanderer-Pkw eines Freundes. Stolz vermeldete Störzner nach einer Ausfahrt nach Hoyerswerda, es sei eine „prächtige Ausfahrt“ mit einer sagenhaften Länge von 140 Kilometern gewesen, von denen er 100 Kilometer selbst hinter dem Steuer gesessen habe.
Neben den Eintragungen der Etappen und Beschreibungen von Städten und Landschaften sind die Berichte, deren Umfang zwischen 19 und 280 Seiten liegt, reichlich mit Postkarten, Fotos aus Zeitschriften und Zeitungsausschnitten versehen, die die Reiseziele illustrieren. Darüber hinaus fertigte Siegfried Störzner auch eigene Zeichnungen und Skizzen an, mit denen er Sehenswürdigkeiten, Hausansichten oder besondere Landschaftseindrücke festhielt. Der beträchtliche Aufwand, den diese Anreicherung der Reisebeschreibungen bedeutete, zeigt ebenso wie die Tatsache, dass die Bände sorgfältig gebunden und beschriftet wurden, dass der Verfasser seine Berichte nicht lediglich als Protokolle seiner Unternehmungen auffasste, sondern ihnen einen bleibenden Erinnerungswert beimaß.
Zuletzt zeigen die Alben auch, dass sich Störzner auf einer Metaebene mit dem Wandern befasste. Ein Zeugnis davon ist das Album „Ein Lehrgang für Wanderführung“, in dem er die Teilnahme an einer Reihe von Wanderungen im Rahmen eines Lehrgangs des Dresdner Hauptausschusses für Leibesübungen beschreibt. Ziel war es, das „richtige“ Wandern als gesundheits- und bildungsfördernde Tätigkeit in den Schulen stärker zu verankern, wobei „Massenwanderungen“ zu vermeiden seien: „Einen Tag mit vielen zu wandern, mag noch gehen, weil sich jeder immerhin bestrebt, nur gute Seiten zu zeigen. Bald aber machen sich Egoismus, Raddau [sic], Herdeninstinkte unangenehm bemerkbar.“ Vom Wandern versprachen sich die Teilnehmer:innen des Lehrgangs ganz im Sinne des Wandervogel-Ideals Naturnähe und geistige wie körperliche Gesunderhaltung in zeitweiliger Abkehr von der Massengesellschaft.
Die Wanderbücher Siegfried Störzners geben beispielhafte Einblicke in die Art und Weise, wie sich Menschen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts über Reisen ihre Umwelt aneigneten, Unbekanntes entdeckten und dabei Heimat konstruierten. Sie spiegeln Neugier und Abenteuerlust ebenso wie das Gefangensein in eingeübten Wahrnehmungsweisen, zeigen detailverliebten Forschungsgeist neben einer gewissen Blindheit für gesellschaftliche Kontexte. Sie sind damit eine wertvolle Quelle nicht nur für die Geschichte des Wanderns im engeren Sinne, sondern auch für zeittypische Erfahrungen und Sichtweisen überhaupt.