Fundstück aus dem ISGV – im Januar 2025

Der Dresdner Gesindemarkt – eine ungewöhnliche Neujahrstradition

von Dörthe Schimke

Jede/r kennt den Weihnachtsmarkt, kauft regelmäßig im Supermarkt oder war schon einmal auf einem Wochenmarkt. Der Arbeitsmarkt, auf dem Angebot und Nachfrage nach Arbeitskräften oder -stellen aufeinandertreffen, hat dagegen eher etwas Abstraktes, Dezentrales. Das war bereits im Dresden des 19. Jahrhunderts so, als Tausende von überwiegend jungen Menschen im Zuge der Industrialisierung in die Großstadt strömten, um hier eine Arbeit und das Glück zu finden – sei es in einer Fabrik, in einem Handwerk oder einer bürgerlichen Familie. Suchte man etwa eine Stelle als Dienstmädchen oder Diener in einem herrschaftlichen Haushalt, so konnte man den „Dresdner Anzeiger“ aufschlagen und auf eine der vielen Annoncen reagieren oder sich zu einem der zahlreichen Stellenvermittlungsbüros, die es in der Stadt gab, begeben. Einen branchenspezifischen Arbeitsmarkt, im wahrsten Sinne des Wortes, stellte dagegen der heute in Vergessenheit geratene Dresdner Gesindemarkt dar, der bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts fest zum Jahresveranstaltungsprogramm der Elbestadt gehörte – und zu den eher bizarren städtischen Neujahrstraditionen.

Doch was ist überhaupt ein Gesindemarkt? Was ein wenig nach Menschenhandel klingt, war laut dem Sozialwissenschaftler Franz Ludwig eine Veranstaltung, „durch welche stellensuchenden Dienstboten und Dienstboten suchenden Herrschaften Gelegenheit geboten wird, sich zu bestimmter Zeit an bestimmten Orten zu treffen“. Solche Gesindemärkte, deren Anfänge sich über Jahrhunderte in der Geschichte zurückverfolgen lassen und die spätestens seit dem 17. Jahrhundert belegt sind, fanden in aller Regel an öffentlichen Plätzen statt und dienten dem mündlichen Abschluss eines Gesindedienstvertrags. Mittelspersonen waren bei den Märkten in aller Regel nicht in den Vertragsabschluss involviert, auch wenn sich laut Ludwig (1902) dort zunehmend „gewerbsmäßige Vermittler eingeschlichen“ hätten. Gesindemärkte waren in vielen, vor allem stark landwirtschaftlich geprägten Regionen des Deutschen Reichs und darüber hinaus verbreitet, von Schlesien bis in die Eifel, von Schleswig-Holstein bis nach Württemberg. Im mitteldeutschen Raum stellte der Dresdner Gesindemarkt neben ähnlichen Märkten in Altenburg und Zerbst wohl den bedeutendsten dar.

Er fand jährlich am Silvester- und Neujahrstag statt und richtete sich auch hier an landwirtschaftliche Arbeitskräfte und ebensolche suchende Dienstherrschaften. Die Veranstaltung wurde auch als „wendischer Gesindemarkt“ bezeichnet, da hier vor allem sorbisches Gesinde aus der Oberlausitz zum 2. Januar, dem typischen „Mietantrittstermin“ – auch so ein Begriff aus einer anderen Zeit –, nach Arbeit suchte. Personal und Dienstgebende, wohl primär Rittergutsbesitzer, Landwirte und Ökonomen aus der Dresdner Umgebung, konnten hier direkt ins Gespräch über die Arbeitsbedingungen sowie den Lohn und, so man sich einig wurde, auch zum Vertragsabschluss kommen. Inwieweit das Zusammenkommen auch von städtischem Dienstpersonal und Dresdner Dienstherrschaften genutzt wurde, ist nicht nachweisbar. Wann der Dresdner Gesindemarkt, der offensichtlich über einen längeren Zeitraum jährlich hunderte Menschen anzog, erstmalig stattfand, ist ebenfalls nicht mehr nachzuvollziehen.

Am ersten Tag versammelten sich alle Interessenten im Ballhaus auf der Bautzner Straße 35 in der Neustadt. Der zweite Tag fand traditionell auf dem Theaterplatz sowie im anliegenden Restaurant „Helbigs Etablissement“ statt, das 1911/13 durch einen repräsentativen Neubau des Dresdner Stadtbaurats Hans Erlwein ersetzt wurde.

Wendischer Gesindemarkt in Dresden, Blick auf den Theaterplatz, aus: Das Buch für Alle 16.20 (1881), S. 461.

Ein wahres Wimmelbild, das einen Eindruck vom bunten Treiben auf dem Theaterplatz am Neujahrstag zum Dresdner Gesindemarkt verschafft, findet sich in dem illustrierten Unterhaltungsblatt „Das Buch für Alle“ aus dem Jahr 1881. Zu sehen ist eine bunte Menschenansammlung, die in viele Zweier-Gespräche zerfällt: Sorbinnen in Tracht sprechen mit „feinen Damen“ mit Hut und Pelzkragen. Wohlgekleidete Herren verhandeln mit Knechten, die schon mit ihrem Reisebeutel nach Dresden gekommen und bereit zum Weiterziehen sind. Schutzmänner, erkennbar an ihren Pickelhauben überwachen das Geschehen. Auch ein Zeitungsverkäufer versucht inmitten des Getümmels Umsatz zu machen.

Einige Details verweisen auf arbeitsrechtliche Eigenheiten des Gesindewesens. So wird dort von einem Dienstgeber an einen Dienstboten das sogenannte Mietgeld bezahlt, manchmal auch als Drauf- oder Dinggeld bezeichnet, mit dem ein Gesindevertrag traditionell besiegelt wurde. Mehrere Personen sind mit einer Art Heft in der Hand zu sehen. Dabei handelt es sich um die sogenannten Gesindezeugnisbücher. Jede/r Dienstbot/in musste ein solches staatlich ausgegebenes Dokument bei sich führen. Diese kleinen Hefte im Oktavformat stellten eine Kombination aus Pass und Arbeitsnachweis dar. Endete ein Dienst, mussten die Dienstgeber für ihr Gesinde ein Arbeitszeugnis in das Büchlein schreiben. Bei Antritt eines neuen Dienstes war das Gesindezeugnisbuch zwingend vorzuzeigen. Wie bei heutigen Arbeitszeugnissen kam es auf gewisse Formulierungen an: Treue, Ehrlichkeit und Fleiß waren die Diensttugenden des 19. Jahrhunderts.

Bis heute haben sich Gesindezeugnisbücher in Familiennachlässen recht zahlreich erhalten und haben so teilweise Eingang in wissenschaftliche Sammlungen gefunden. So werden im Lebensgeschichtlichen Archiv für Sachsen (LGA) ebenfalls zwei solcher Dokumente verwahrt, die Gesindezeugnisbücher von Alfred Arno Hennig und Johanna Maria Heinrich, die spannende Quellen für alltags-, mobilitäts- und sozialgeschichtliche Fragestellungen sein können. Welche Löhne zwischen den Vertragspartnern ausgehandelt wurden, lässt sich dem Bild leider nicht entnehmen. Da Mindestlöhne noch in weiter Ferne lagen, hingen die Löhne im Gesindewesen stark vom Alter, der Erfahrung und sicher auch dem Verhandlungsgeschick der Arbeitskräfte ab. Seltene Einblicke in das Lohngefüge des landwirtschaftlichen Gesindes gewährt ein ebenfalls im LGA enthaltenes Gesindelohnbuch aus dem Zeitraum von 1891 bis 1913.

Gesindelohnbuch (1891-1913), ISGV, LGA, Projekt 24

Anders als beim häuslichen Personal in städtischen Bürgerhaushalten gab es beim landwirtschaftlichen offensichtlich einen Männerüberschuss: So erschienen 1878/79 700 männliche, aber nur 150 weibliche Dienstpersonen, wie das „Dresdner Journal“ schrieb. Ende des 19. Jahrhunderts prognostizierte die Presse bereits den Niedergang der Dresdner Traditionsveranstaltung:

Der heute früh im Ballhause auf der Bautzner Straße begonnene Dresdner Gesindemarkt hat aufs Neue den Beweis erbracht, daß sich diese Märkte nahezu überlebt haben und wahrscheinlich nur noch von sehr kurzer Dauer sein werden. (Elbeblatt und Anzeiger, Nr. 2, 04.01.1890, S. 1).

Zum Gesindemarkt 1893/94 erschienen sogar nur noch acht Mägde. Dieses offensichtliche Desinteresse des Personals wurde von den Sozialdemokraten als positives Signal gewertet und bot Anlass für das Parteiorgan „Vorwärts“ generelle Kritik an den bestehenden Verhältnissen zu üben: Wir begrüßen die Thatsache des Gesindemangels als ein Zeichen des wachsenden Selbstgefühls in denjenigen Bevölkerungsklassen, aus denen sich das Gesinde hauptsächlich rekrutiert. Schließlich dürfen diese unbestreitbaren Thatsachen aber auch dahin führen, daß die allem Gerechtigkeitssinn Hohn sprechende ‚Gesinde-Ordnung‘ endlich falle. (Vorwärts. Berliner Volksblatt, Zentralorgan der sozialdemokratischen Partei Deutschlands, Jg. 11, Nr. 5, 07.01.1894, o. S ). Auch von sorbischer Seite gab es heftigen Widerspruch gegen diese Form der Arbeitsvermittlung: Unsere Söhne und Töchter sind doch kein Vieh, das man verschachert. Diese unwürdige Art der Anwerbung für den Gesindedienst müßte sich bald ändern. (zitiert nach Simon, Wendischer Gesindemarkt, S. 12)

1901/1902 schien das Ende des Dresdner Gesindemarkts endgültig erreicht, denn wie die Dresdner Presse berichtete, kamen zu dem Termin nur noch 13 Ökonomen, aber überhaupt keine Arbeitskräfte. Im darauffolgenden Jahr fand der Gesindemarkt mit 13 Landwirten, drei Knechten sowie einer Magd dennoch erneut statt. 1903/04 kamen ebenfalls nur noch wenige Interessenten zum Theaterplatz. Was aus heutiger Perspektive erst recht wie ein Anachronismus im frühen 20. Jahrhundert erscheint, wurde schon 1904 als Überbleibsel aus ehemaligen Zeiten (Dresdner Journal 1 (1904), S. 6) verstanden. Nach 1904 wurde der Dresdner Gesindemarkt in der Presse nicht mehr erwähnt, was für sein völliges Verschwinden spricht.

Weiterlesen:

  • Franz Ludwig, Die Gesindevermittlung in Deutschland, Tübingen, 1903, S. 4-9.
  • Silke Göttsch, Beiträge zum Gesindewesen in Schleswig-Holstein zwischen 1740 und 1840, Neumünster 1978, S. 30-36.
  • Der wendische Gesindemarkt in Dresden, in: Das Buch für Alle 16.20 (1881), S. 463.
  • Ernst Simon, Wendischer Gesindemarkt in Dresden, in: Bautzener Kulturschau 14.8 (1864), S. 12-14.
  • Der diesjährige Gesindemarkt in Dresden, in: Social-Correspondenz. Organ des Centralvereins für das Wohl der arbeitenden Klassen 2.2 (1878), S. 5 f.

Zurück