Fundstück aus dem ISGV – im Januar 2023
Ein Nationalpark für die Sächsische Schweiz? oder: ‚Natur machen‘ im Sozialismus
von Henrik Schwanitz
Im Frühsommer des letzten Jahres wurde ich auf eine Akte aufmerksam gemacht, die bei Erschließung der Sammlungsbestände des ISGV und seiner Vorgängerinstitutionen aufgefunden wurde. Auf den ersten Moment wirkte die Mappe in ihrem leicht lädierten Zustand unscheinbar, doch sie erweckte Interesse durch ihre handschriftliche Aufschrift „Nationalpark Sächsische Schweiz“. Der Inhalt, der zum Großteil aus der Mitte der 1950er-Jahre stammt, verweist dabei auf einen Vorgang, der nicht nur Teil der Geschichte dieser Felsenlandschaft ist, sondern darüber hinaus einen spannenden Einblick in den Umgang mit der Natur in der frühen DDR ermöglicht.
Die Rekonstruktion, wie die Unterlagen in die Sammlung des ISGV gekommen sind, führt dabei über einen Umweg. Im Oktober 1950 betraute das sächsische Volksbildungsministerium das Institut für Volkskunde mit einer heimatkundlichen Bestandsaufnahme aller sächsischen Landschaften. Obgleich das Vorhaben bereits 1952 an das Institut für Denkmalpflege überging, blieb das Institut für Volkskunde weiterhin involviert. Als erstes Ergebnis erschien 1957 der Band „Gebiet Königstein/Sächsische Schweiz“, der gleichzeitig den Auftakt für die Reihe „Werte der deutschen Heimat“ bildete. Mit Gerhardt Müller war daran auch ein Mitarbeiter des Instituts für Volkskunde maßgeblich beteiligt. Über diese Verbindung kam auch ein kleiner Bestand dieser heimatkundlichen Bestandsaufnahme in die Sammlung des ISGV. Der Großteil der Unterlagen befindet sich heute im Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig.
Die im ISGV erhaltene Mappe enthält einerseits eine Materialsammlung zum Gebiet der Sächsischen Schweiz, darunter Korrespondenz, Zeitungsartikel oder auch Zeichnungen Müllers für die spätere Publikation von 1957. Den Kern des Fundstücks bilden jedoch mehrere maschinenschriftliche Schreiben, an deren Anfang eine „Begründung zum Entwurf einer Verordnung über die Errichtung des Nationalparks Sächsische Schweiz“ steht. Verfasser dieser Begründung war Erwin Winkler, Mitarbeiter des Instituts für Denkmalpflege und Bezirksnaturschutzbeauftragter. Der Ordnungszusammenhang der Mappe bestätigt dabei die Vermutung, dass die Diskussion um einen Nationalpark in unmittelbarem Zusammenhang mit der heimatkundlichen Bestandsaufnahme stand.
Wahrscheinlich angeregt durch die intensive und interdisziplinäre Beschäftigung mit der Sächsischen Schweiz sowie durch die Vorbereitung eines DDR-weiten Naturschutzgesetzes kamen seit 1953 Überlegungen auf, wie die Natur- und Kulturgüter der Sächsischen Schweiz am besten zu schützen seien. Zum Jahreswechsel 1954/1955 erfolgte schließlich die offizielle Antragsstellung für die Einrichtung eines Nationalparks in der Sächsischen Schweiz. Diese nun ist – zumindest in Teilen – in der im ISGV erhaltenen Akte dokumentiert. Sie enthält neben den Entwürfen für eine konkrete Verordnung und Durchführungsbestimmung auch acht Gutachten (teils mit dem Vermerk „gekürzt“), wobei gerade auch die Gutachten einen Einblick in das breite Unterstützerfeld geben. So finden sich sowohl Vertreter verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen (Forst- und Wasserwirtschaft, Geologie, Geografie, Zoologie, Botanik) als auch des Bezirks Dresden und der Bezirkskommission der Natur- und Heimatfreunde im Kulturbund der DDR hierunter.
Die Debatte um den Nationalpark ist geradezu idealtypisch für die Sicht auf Natur und Umwelt in der DDR. Zwar gab es bereits seit der Zeit um 1900 Bestrebungen, diesen besonderen Naturraum zu schützen, doch veränderte sich nun der Duktus. Denn schon das Versprechen einer neuen sozialistischen Gesellschaftsordnung beinhaltete auch einen vermeintlich besseren Umgang mit der Natur. Alle Schäden an der Landschaft wurden somit als Folge der kapitalistischen Wirtschaftsweise verstanden. Doch wollte man im Nationalpark keine Museumslandschaft errichten, sondern vielmehr – ganz im Sinne des Planungsgedankens – dieses Gebiet aktiv formen. So sollten die Wälder von Schäden befreit und naturnah bewirtschaftet, das Gesamtgebiet vor „landschaftszerstörenden“ Einflüssen geschützt und Zeugnisse der romantisierenden bürgerlichen Landschaftsästhetik, wie künstliche Ruinen und Wasserfälle beseitigt werden. Ergänzt werden sollten diese Maßnahmen etwa durch den Bau einer Panoramastraße oder auch die Errichtung neuer FDGB-Ferienheime. Ziel war, neben dem Schutz der Natur, den Erholungswert der Landschaft zu steigern.
Der Nationalpark sollte als „Eden für jeden“, als sozialistische Erholungslandschaft vor allem der werktätigen Bevölkerung zur Regeneration dienen und so Produktivität und Lebensqualität der sozialistischen Gesellschaft steigern. Das Ziel sollte eine sozialistischen Ideallandschaft sein, in der wirtschaftliche Interessen, Naturschutz und Tourismus in harmonischer Beziehung zueinanderstanden. Im innerdeutschen Wettstreit wurde dabei sogar der Sächsischen Schweiz das Potenzial zugestanden, „der“ Nationalpark der Deutschen zu werden. So weit die Planungen in den 1950er-Jahren auch gingen: Aufgrund des Vorrangs der wirtschaftlichen Produktion und des staatlichen Desinteresses blieben der Antrag von 1955 sowie auch spätere Bemühungen erfolglos. Erst mit dem letzten Atemzug des DDR-Systems, im Oktober 1990, erfüllte sich der lang gehegte Wunsch nach der Gründung des Nationalparks Sächsische Schweiz.
Das hier vorgestellte Fundstück aus den Sammlungen des ISGV ermöglicht einen Blick auf ein spannendes Kapitel Umweltgeschichte der DDR. Zugleich ist die Thematik für die bis heute nicht endgültig geklärten Fragen, wie Natur sinnvoll geschützt und das Verhältnis des Menschen zur Natur geregelt werden kann, anschlussfähig. Insbesondere gilt dies für die Sächsische Schweiz, wo nach den verheerenden Waldbränden vom Sommer 2022 die Art und Weise des hier praktizierten Naturschutzes von Einigen in Frage gestellt wird. Und wieder heißt es – nun aber unter umgekehrten Vorzeichen: Braucht die Sächsische Schweiz einen Nationalpark?