Fundstück aus dem ISGV – im Januar 2022
Der Blutdruck des Volkskundlers
von Nadine Kulbe
Schon einige Male war der Volkskundler Adolf Spamer Thema in unseren Fundstücken (Andachtsbilder, Tätowierungen und Patenbriefe). Vor ein paar Jahren konnten wir seinen am ISGV verwahrten Nachlass erschließen, durch zahlreiche Archivbesuche zudem unser Material inhaltlich anreichern und kontextualisieren. Eingesehen wurden vor allem Nachlässe von Fachkolleg*innen und Briefwechsel, die sich oft um die volkskundliche Arbeit drehten. Ab und an fand sich auch privater Austausch mit Freunden und Bekannten. Eine Entdeckung im Hauptstaatsarchiv Dresden aber war etwas Besonderes.
Im Nachlass des Arztes Georg Ernst (1900–1990) fand sich eine Akte mit dem Titel „Spamer, Prof. Dr. Adolf (1883–1953)“, die u.a. einen ausführlichen Bericht zu Blutdruckmessungen zwischen dem 15. November und dem 21. Dezember 1949 enthält. Georg Ernst hatte Mitte der 1930er Jahre eine Praxis auf dem Weißen Hirsch in Dresden eröffnet, leitete nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs das Krankenhaus in Dresden-Loschwitz und war bis Dezember 1949 am Krankenhaus der Sowjetischen Militäradministration im ehemaligen Lahmann-Sanatorium dienstverpflichtet. 1950 konnte er dann wieder eine hausärztliche Praxis eröffnen. Daneben war er auch ein begeistertet und engagierter Heimatforscher. Ernst war der behandelnde Arzt von Adolf Spamer und hatte ihn eventuell im ehemaligen Lahmann-Sanatorium kennengelernt. Spamer wohnte mit seiner Haushälterin Anna Angerstein ab 1947 in Dresden-Bühlau, also nicht weit weg vom Krankenhaus. Grund für die Konsultation dürfte vor allem Spamers hoher Blutdruck gewesen sein.
Adolf Spamers gesundheitlicher Zustand – ein Nervenleiden Mitte der 1920er, ein körperlicher Zusammenbruch Ende der 1930er Jahre und ein Schlaganfall 1950 – spiegelt sich in den Quellen dessen Person betreffend immer wieder. Das Blutdruckmessprotokoll ist spannend, weil es einen kleinen Einblick in den Tagesablauf Spamers gibt, denn auch im Alter von 66 Jahren war er weiterhin an der Universität tätig, hielt Lehrveranstaltungen in Dresden, reiste etwa alle zehn Tage nach Berlin an die Deutsche Akademie der Wissenschaften zu Berlin. Und es weist auch auf die vier Jahre nach Kriegsende in einigen Teilen noch immer prekäre Versorgungslage der Bevölkerung hin. Zwar gab es im Hause Spamer Bohnenkaffee, Rhababerwein und Grog zu trinken, der Wissenschaftler hatte aber Schwierigkeiten, ein Blutdruckmessgerät zu bekommen: Nachdem es mir endlich gelungen ist, eines älteren Blutdruckmessers habhaft zu werden (die Neufertigungen unserer Zone sind nicht nur noch ziemlich primitiv, sondern gehen auch nur bis 260 als Höchstgrenze), habe ich die ersten groben Feststellungen in der Aufzeichnung der täglichen Schwankungen festzuhalten versucht; und zwar zunächst ohne allen methodischen Untersuchungsaufbau, nur so ‚aus der la mäng‘ antippend. Läßt doch schon die Überlastung und völlige Unregelmäßigkeit meiner Tagungsabläufe zur Zeit an bestimmten Stunden und stabile Situationen gebundene Messungen, wie sie im Pensionistendasein oder dem Krankenhaus möglich wären, nicht zu. (Spamer an Ernst, 22.12.1949, HStA Dresden, 12674, Nr. 2518).
Im Protokoll ist vermerkt, dass er ein Sphygomanometer mit dem Namen „Erkameter“ (Firma ERKA, produziert ab 1927) verwendet, damit allerdings nur die systolischen Werte gemessen hat – daher ist im nachfolgenden Auszug auch nur ein Wert angegeben.
Spamer ging methodisch an die Sache heran und absolvierte mehrere Messreihen, um seinen Hopse-Blutdruck zu überwachen – vergleichend mit und ohne Einnahme der von Ernst verschriebenen Medikamente. Anschließend wertete er die über mehrere Tage gehenden Messungen aus:
Abgesehen von der allgemeinen Tendenz zum Fallen des Blutdrucks lassen sich aus den festgestellten Druckzifferwerten m.E. zunächst noch keine sicheren Schlüsse über die Einwirkung der Arzneien feststellen. Der Einfluss der Arzneien kann ebenso ziemlich bedeutungslos auf meinen Blutdruck sein, wie man auch in dem allmählichen Blutdruckrückgang eine Nachwirkung der Arzneinahme vermuten mag. Schliesslich ist unter den gegenwärtigen Verhältnissen, wo es dem Apotheker gestattet ist, bei Fehlen ärztlich verschriebener Mittel ähnlich wirkende Substanzen ohne besondere Verständigung des Käufers zu geben (zumal bei umfangreichen Arzneikombinationen) ziemlich unsicher, wie weit die Absichten des Arztes verwirklicht wurden.
Ein weiterer Unsicherheitsfaktor ist die zahlen- und zeitmässige Unregelmäßigkeit meiner Tagesmessungen, die sich aus den stark variierenden, zuvor oft nicht zu berechnenden Dienst- und Berufsverpflichtungen ergibt. Aus diesen Gründen haben die gefundenen Durchschnittszahlen einen etwas problematischen Wert.
Einige kleine Feststellungen:
Die anfänglich erstaunlich hohen Druckzahlen beim morgendlichen Erwachen vor dem Frühstück sind in den Messungen der letzten 7 Tage relativ normalen Verhältnissen gewichen (160–180).
Nach Einnahme von Bohnenkaffee war der Druck wieder dreimal gesenkt (20, 30, 10), einmal erhöht (5).
Nach einem Glas Grog traten wiederum dreimal Senkungen ein (25, 30, 20).
Erstaunlich waren die Blutdruckmessungen bei unmittelbar aufeinander folgenden Messungen im warmen (überwärmten) und kalten Zimmer um 15, 5, 20.
Konzentrierte geistige Arbeit scheint im allgemeinen den Blutdruck zu erhöhen, der aber bei abendlicher Ermüdung dann wieder sinkt. Da die Feststellungen nach den (stärker beanspruchenden) Vorlesungen und den (schwächer beanspruchenden) Seminaren erst nach der Rückkehr aus der Stadt – d.h. im allgemeinen 1 bis 1 ½ Stunden später gemacht wurden, geben sie einstweilen noch ein ziemlich vages Bild.(HStA Dresden, 12674, Nr. 251)
Wie Spamer an das Blutdruckmessgerät gelangt ist, verraten die Unterlagen nicht. Vielleicht erhielt er es über Kontakte in der Bundesrepublik. Zumindest besorgte er selbst für den rumänischen Wissenschaftler Ion Muşlea zwei Jahre später Brillengläser von ZEISS und sandte ihm diese nach Cluj, wofür Muşlea sich in einem Brief herzlich bedankte (ISGV, NaAS/K19/M2/1).
Bei der von Muşlea erwähnten schweren Krankheit, die Spamer zu Untätigkeit verurteilt hatte, handelt es sich um einen Schlaganfall, den Spamer 1950 erlitten und der eine Lähmung der rechten Körperhälfte zur Folge hatte. Die Korrespondenz besorgte danach seine Assistentin Lilli von Haebler, er selbst unterschrieb nur mehr mit der linken Hand. Diese körperliche Beeinträchtigung hat sich im wahrsten Wortsinne in seine Briefe eingeschrieben und wirkt im Vergleich mit seiner eigentlichen charakteristischen und gleichmäßigen Handschrift umso eindrücklicher.
Adolf Spamer erholte sich nie mehr von den Folgen dieses Schlaganfalls. Er starb am 20. Juni 1953 und wurde auf dem Waldfriedhof auf dem Weißen Hirsch in Dresden beigesetzt.