Fundstück aus dem ISGV – im Dezember 2020
Weihnachtliche Volkskunst und woher sie kommt
von Nadine Kulbe
Es ist Adventszeit. Aller Orten wird wieder die weihnachtliche „Erzgebirgische Volkskunst“ hervorgeholt, in der Wohnung verteilt und in die Fenster gestellt. Schaut man sich die Räucherfiguren, Pyramiden und Schwibbögen genauer an, fällt die große Bandbreite der Formen und Motive auf, die auch aktuelle Entwicklungen aufgreifen kann (so gibt es im „Corona-Jahr“ 2020 zum Beispiel einen räuchernden Christian Drosten, gar, wenn auch nicht in Massenproduktion, einen Corona-Schwibbogen). Andere Objekte scheinen eher „traditionell“ und unveränderlich. Dazu gehört einer der verbreitetsten Schwibbögen, der auf der einen Seite einen Schnitzer, auf der anderen eine Klöppelfrau, in der Mitte zwei Bergmännern im Habit samt Wappenschild mit gekreuzten Meißner Schwertern zeigt.
Wie alt solche Motive sind, ist nicht immer klar. Gern wird eine jahrhundertelange Traditionslinie behauptet, und nicht immer stößt es auf Zustimmung, wenn wissenschaftliche Untersuchungen plötzlich den Schluss nahelegen, dass die Geschichte doch nicht so alt ist. Dies zeigte sich erst wieder im Jahr 2019, als der Direktor des Dresdner Museums für Sächsische Volkskunst, Igor Jenzen, seine Interpretation zum nachhaltigen Einfluss des 1719 im Plauenschen Grund anlässlich der Hochzeit des sächsischen Kronprinzen Friedrich August mit der habsburgischen Kaisertochter Maria Josepha gefeierten Saturnfestes präsentierte. Demnach war das Fest eine Initialzündung für die volkskünstlerische Produktion im Erzgebirge. Dass wissenschaftliche Debatten zur Geschichte der erzgebirgischen Volkskunst nicht allein auf Grundlage von Quellen, sondern auch stark emotional geführt werden, zeigen sowohl die an Jenzens Veröffentlichungen und Vorträge anschließenden Diskussionen in der Lokalpresse und den Sozialen Medien, wie auch die auf seinen Beitrag folgenden wissenschaftlichen Repliken von Heidrun Wozel und Albrecht Kirsche.
Bei dem Schwibbogenmotiv mit Bergmännern, Schnitzer und Klöppelfrau ist die Geschichte einfach zu rekonstruieren: Im Jahr 1937/1938 fand in Schwarzenberg die „Feierohmdschau“ als Leistungsschau erzgebirgischer Schnitzkunst statt. Zum Symbol der Ausstellung wurde der Schwibbogen nach dem Entwurf der Leipziger Künstlerin Paula Jordan (1896–1986). Sie knüpfte damit an die Traditionen und Gewerke des Erzgebirges an und entsprach zudem ganz den Forderungen der nationalsozialistischen Ideologie, die seit 1933 auch auf das volkskünstlerische Schaffen Einfluss zu nehmen versuchte. Demnach galt insbesondere das Erzgebirge als das sächsische Weihnachtsland schlechthin: „Hier hat sich das Volk in rechter Weise sein Weihnachten geschaffen, zu dem gute, tiefempfundene Weihnachtslieder, eine rechte Weihnachtsmusik, heimatgebundene Gedichte und Spiele und vor allem die Erzeugnisse heimatlicher Schnitzkunst in reicher Auswahl zur Verfügung stehen“ – so hieß es in den 1937 vom Heimatwerk Sachsen ausgearbeiteten „Richtlinien für vorweihnachtliche Feiern“. Das „Heimatwerk“, gegründet 1936 auf Initiative des sächsischen Gauleiters Martin Mutschmann (1879–1947), sollte das Bild Sachsens im Deutschen Reich aufwerten und regionalkulturelle Bestrebungen als nationalsozialistische Erziehungsarbeit koordinieren. Die eben zitierten Richtlinien stellten auch einen Makel fest: „Bei den erzgebirgischen Schnitzarbeiten wird besonderer Wert darauf gelegt, daß sie dem deutschen Weihnachtsbrauchtum Rechnung tragen und immer mehr ihr orientalisches Gepräge aufgeben.“ Während beispielsweise eine vor diesen Forderungen entstandene Weihnachtskrippe noch die Heiligen Familie und die Heiligen Drei Könige ein einer arabisch anmutenden Szenerie platzierte, folgt eine um 1937 geschaffene mit Pferdegöpel und bergmännischer Familie schon ganz dem ideologischen Appell.
Volkskunst ist also nicht nur traditionell, sondern immer veränderlich. Die Objekte populärer Kunst sind ein Ausdruck gesellschaftlicher Entwicklungen wie auch erzieherischer, ästhetischer, wirtschaftlicher oder politischer Beeinflussung. Die starke Verwurzelung (vor)weihnachtlicher Traditionen hat, so eine zeitgenössische Beobachtung, nicht nur zu kreativen Neuinterpretationen im Motivkanon der Volkskunst geführt, sondern auch ganz pragmatische Ergebnisse gezeitigt. Denn die Platzierung von Schwibbögen im Fenster bedarf eines naheliegenden Stromanschlusses, seit die Beleuchtung mit Lampen und nicht mehr durch Kerzen realisiert wird. Findige Erzgebirger*innen fingen an, Steckdosen direkt in die Fensterlaibung einzubauen. Bisweilen terminiert auch ein eigener Stromkreis mit Zeitschaltuhr das automatische An- und Ausschalten der Beleuchtung zu gegebener Zeit. Das Wissen um diese pragmatische Lösung nehmen exilierte Erzgebirger*innen inzwischen auch in die Fremde mit und tradieren so ihrerseits wieder eine weihnachtliche Praxis.