Fundstück aus dem ISGV – im August 2024

Pflanzen gegen Gicht, Rheuma und Teufel

von Nadine Kulbe

Die Sammlungen des ISGV überraschen immer wieder. Auch jemanden wie mich, die ich schon oft damit gearbeitet habe. Auf der Suche nach Material für ein neues Fundstück entdeckte ich vor einiger Zeit in den Unterlagen des ehemaligen Instituts für Deutsche Volkskunde/Forschungsstelle Dresden ein „Herbarium“. Enthalten darin sind 14 Pflanzen:

  • Ackerschachtelhalm (Equisetum arvense L.)
  • Melisse (Melissa officinalis L.)
  • Brennnessel (Urtica dioica L.)
  • Salbei (Salvia officinalis L.)
  • Faulbaum (Rhamnus frangula L.)
  • Schafgarbe (Achillea millefolium L.)
  • Feldthymian/Quendel (Thymus serpyllum L.)
  • Spitzwegerich (Plantago lanceolata L.)
  • Kamille (Matricaria chamomilla L.)
  • Waldmalve (Malva silvestris L.)
  • Lavendel (Lavendula spica L.)
  • Wilder Majoran (Origanum vulgae L.)
  • Löwenzahn (Taraxacum officinale Web.)
  • Wurmfarn (Aspidium filix mas)

 

Nach der Trocknung wurden die Pflanzen auf der rechten Innenseite gefalteter Blätter (79 x 29,5/39,5 x 29,5 cm) mittels schmaler Papierstreifen bzw. Fäden fixiert. Sie sind mit einem handgeschriebenen Schild versehen, das den lateinischen und deutschen Namen der jeweiligen Pflanzen ausweist. In einigen der gefalteten Bögen haben sich auch mit Schreibmaschine geschriebene deutschsprachige Erläuterungen zu den Pflanzen erhalten.

Auf den ersten Blick handelt es sich um ein Herbarium oder um einen Teil davon. Ein Herbarium ist eine Sammlung meist gepresster und getrockneter – und damit haltbar gemachter – Pflanzen. Es ist üblicherweise für wissenschaftliche Zwecke gedacht, kann aber ebenso von Pflanzenliebhaber:innen, Kräuterkundigen, Schüler:innen und sonst wie interessierten Personen angefertigt werden. Es dient dem Vergleich, der Dokumentation, der Bestimmung sowie auch dem Beweis über das Vorkommen bestimmter Pflanzen an bestimmten Orten. Üblicherweise enthält ein Herbarium neben Angaben zur Pflanze selbst auch solche zum Fundort und -zeitpunkt sowie zur sammelnden Person. Diese Angaben fehlen im Herbarium in den Sammlungen des ISGV. Daher gibt es leider auch keine Informationen darüber, wer es wann, wo und warum angefertigt hat.

Wasserzeichen der Herbariumsblätter (ISGV, AIfV/K6/M7)

Auch das Wasserzeichen in den Bogen aus Büttenpapier hilft bei einer Datierung oder Ortsbestimmung nicht weiter. Gefertigt wurde das Papier in Groß Ullersdorf (heute Velké Losiny im Nordosten Tschechiens). Neben dem abgekürzten Namen der Papiermühle „A. S. Gr. Ullersdorf“ zeigt das Wasserzeichen den Doppeladler der habsburgischen Monarchie. Möglich also, dass es vor dem Ende der Habsburgermonarchie 1918 geschöpft worden ist – die Anfertigung des Herbariums kann aber durchaus später erfolgt sein.

Mehr über den Sinn und Zweck des Herbariums verraten die für einige Blätter erhaltenen Beschriftungen, denn in ihnen geht es keineswegs um botanische Bestimmungen oder Vergleiche, sondern um die Anwendung der Pflanzen bei körperlichen oder anderen Beschwerden – allerdings nicht durch eine ‚schulmedizinische‘ Heilkunde, sondern mit Anwendungsbeispielen aus dem Bereich der sogenannten Volksmedizin. Die Volksmedizin meint eine von Laien ausgeübte Form der Heilkunde, die sich nicht durch universitäres, sondern vor allem durch Erfahrungswissen auszeichnet. Es geht bei der Volksmedizin, ähnlich der Naturheilkunde, insbesondere um die Anwendung von aus dem Alltag bekannten oder im Alltag vorhandenen Mittel. Diese müssen nicht unbedingt materiell greifbar sein, sondern können auch spirituelle Handlungen wie das Besprechen von Krankheiten oder den Gebrauch von Amuletten meinen.

Im europäischen Kulturraum sind in der Volksmedizin starke religiöse Bezüge festzustellen. Dies zeigt sich besonders eindrücklich an dem etwa 23.000 Texte umfassenden Corpus der Segen und Beschwörungsformeln (CSB), das ebenfalls zu den Sammlungen des ISGV gehört. Die Texte repräsentieren die Vorstellung, durch Besprechen Krankheiten heilen, Feinde bekämpfen, den Teufel oder Hexen beschwören oder Schätze finden zu können.

Teil des systematischen Zettelkatalogs aus
der Bibliothek des Instituts für Volkskunde (ISGV)

Die Volksmedizin gehörte zum Kanon der frühen Volkskunde, also zu dem, was das Fach zu seinen Interessensgebieten und Zuständigkeitsgebieten zählte. Relevant für den Themenbereich Volksmedizin waren insbesondere populäre, animistische und alternative Denk- und Heilkonzepte. Dies zeigen mehrere Lehrveranstaltungen, die der seit 1926 an der Technischen Hochschule in Dresden lehrende Volkskundler Adolf Spamer (1883–1953) anbot:

  • Übungen zur volkstümlichen Magie (Segen, Beschwörungen, Zauberbücher usw.) (Wintersemester 1926/27)
  • Übungen zum volkstümlichen magischen Schrifttum der Gegenwart (Sagen, Beschwörungen, Zauberbuch) (Wintersemester 1929/30)
  • Die religiösen Vorstellungen unserer Vorfahren: Volksglaube und Mythus (Sommersemester 1930)
  • Sitten und Bräuche des deutschen Volkes, Vorlesung (Wintersemester 1930/31)
  • Die religiösen Vorstellungen unserer Vorfahren: Volksglaube und Mythus (Sommersemester 1931, Wintersemester 1931/32)
  • Übungen zur volkstümlichen magischen Literatur der Gegenwart (Wintersemester 1932/33, Wintersemester 1934/35)
  • Die volkstümliche Magie in Schrift und Brauchtum (Sommersemester 1935)

Vielleicht ist das 14 Pflanzen umfassende Herbarium zur Dokumentation der Anwendung von Pflanzen in der Volksmedizin als Studienarbeit angelegt worden. Die Studierenden der Technischen Hochschule, die an den genannten Lehrveranstaltungen teilnahmen, waren fast ausschließlich angehende Lehrerinnen und Lehrer. Dass das Anlegen von Herbarien, die Beschäftigung mit der heimischen Flora zum schulischen Alltag gehörte, ist mehr als wahrscheinlich. So war dieses Herbarium vielleicht eine Verbindung von praktischer botanischer Tätigkeit und der Anwendung des in einer Lehrveranstaltung vermittelten Wissens zum medizinischen und religiösen Einsatz von Pflanzen – und somit auch eine Art Vorbereitung auf die spätere Beschäftigung an einer Schule.

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